Erfahrungsberichte

Im Jahre fünf nach der Troika

Bietet die atemberaubende Schönheit des Alentejo jungen Menschen eine Zukunft?

Ein Bericht von Wolfgang Antes mit Fotos von Wolfgang Antes, Michael Nowak und Frank Hartung

Auf dem Tisch liegen drei große Spielboxen. Sie enthalten Materialien für Kinder und Jugendliche unterschiedlichen Alters zu Interessen, Zukunftsvorstellungen oder Berufswünschen. Die Materialien sind wie Planspiele strukturiert und können von Kindern und Jugendlichen als Gruppenarbeit weitgehend selbstständig eingesetzt werden. „Schulen nutzen das wirklich gerne, für diese Angebote sind sie inzwischen sehr offen“, sagt Paulo Jacob. Er leitet das Jugendzentrum Odemira und hat zusammen mit einer Kollegin die professionell aufgemachten Spielboxen entwickelt. Die Oktobersonne fällt hell durch die großen Fenster des Seminarraumes im ersten Stock des kleinen weißgetünchten Hauses in einer schmalen Gasse nahe des Ortszentrums. Das Jugendzentrum verfügt über mehrere Gruppenräume und zwei Computerarbeitsplätze. Die Zusammenarbeit mit Schulen stellt einen wichtigen Aufgabenschwerpunkt dar. „Wir vermitteln Fähigkeiten und non-formale Kompetenzen, die die Jugendlichen später brauchen, wenn Sie einen Job suchen und in der Region bleiben wollen, was wir hoffen,“ ergänzt Paulo Jacob. Wie präsentiere ich mich, wie gewinne ich Selbstvertrauen, was sind meine Ziele, wie kann ich mich selbstständig machen? – Das seien die zentralen Themen, die Jugendliche beschäftigen. Das erkennen allmählich auch Lehrinnen und Lehrer an den öffentlichen Schulen, die sich oft „wie Könige benehmen“ und glauben, guter Unterricht und gute Noten seien das Wichtigste, dabei sei dies im heutigen Portugal nur die Grundlage, aber bei weitem nicht ausreichend, für den Einstieg in das Berufsleben.


Im Bann der Bankenkrise Odemira ist eine Kleinstadt mit rund 18.000 Einwohnern. Der Ort liegt etwa 200 Kilometer südwestlich von Lissabon im Alentejo und gehört zum Destrikt von Beja. Das Alentejo umfasst etwa ein Drittel des Gebietes von Portugal und grenzt im Süden an die Region Algarve. Von den 10 Mio Einwohnern des Landes leben dort nur ein knappes Zehntel. Größtes Problem im Alentejo ist, jungen Menschen in der durch Landwirtschaft geprägten Region eine Perspektive zu bieten. Einzelne Städte und Kreise haben in den letzten vier Jahren bis zu zehn Prozent Abwanderung verzeichnet. Seit 2008 haben insgesamt 500.000 Portugiesen, meist jung und gut ausgebildet, das Land verlassen. Das sind fünf Prozent der Gesamtbevölkerung. Erst in jüngster Zeit dreht sich der Trend. Das Jahr 2008 war für Portugal eine Zeitenwende. Das Wort Troika kennt jeder. Und es gibt eine informelle Zeitrechnung: die Zeit davor, währenddessen und die Zeit nach der Troika. Das Dreigespann aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Kommission hat in den Jahren der Bankenkrise dem Land bis 2014 härteste Sparmaßnahmen abverlangt, um den drohenden Staatsbankrot abzuwenden. Es gibt keinen Bereich, keinen Sektor, keine Familie, die nicht davon betroffen gewesen wäre. Im Destrikt Beja arbeiteten 700 kommunale Verwaltungsangestellte im Jahr 2008. Heute sind es 400. Das Jugendhaus in Odemira hatte sechs Fachkräfte, heute sind es zwei. Solche Zahlenreihen lassen sich beliebig fortsetzen.

Eintausenddreihundertundfünfzig Euro


Im Gespräch mit jungen Menschen wird deutlich, wie drückend die Zukunftssorgen sind. Die Anfangsgehälter von 800 oder 900 Euro sind niedrig und gelten auch für Akademiker, die oft froh sind, im Servicebereich eines Hotels zu arbeiten. Der Durchschnittslohn liegt im Monat bei 1350 Euro brutto. Wer im Alentejo arbeitet, benötigt ein Auto. Der öffentliche Nahverkehr, ohnehin spärlich ausgestattet, ist nach dem cut down von 2008 praktisch nicht mehr vorhanden. Der Dieselkraftstoff kostet 10 bis 20 Cent mehr pro Liter als in Deutschland. Die Verbundenheit der jungen Leute mit ihrer Gegend, der Landschaft ist spürbar, kaum jemand möchte freiwillig fort. Sie bemängeln, dass es kaum verarbeitendes Gewerbe gäbe. So wird im Alentejo einer der weltbesten Marmorsteinbrüche betrieben. Das Material wird in Spanien oder Frankreich bearbeitet, Portugal liefert nur den Rohstoff. Das gelte auch für Olivenöle oder andere landwirtschaftliche Produkte, die entweder nicht im Land verarbeitet werden oder aber, wie die erstklassigen Weine, kaum den Weg in die französischen oder deutschen Regale der Supermärkte finden. Einer der größten Schätze des Landes ist jedoch zweifellos die weitgehend unberührte Natur in ihrer atemberaubenden Schönheit.

 

Odemira liegt direkt am Rio Mira, der zweitsauberste Fluss in Europa. Er schlängelt sich durch eine sanfte Hügellandschaft, unterbrochen von endlos scheinenden Olivenhainen, Korkeichenwäldern und Schilfgürteln und mündet schließlich in den Atlantik. Die Steilküste mit ihren Sandbuchten, Felsenspitzen und landeinwärts gelagerten Dünen, macht nicht nur einen wilden und unberührten Eindruck. Sie ist es auch. Man kann 10 oder 20 Kilometer oberhalb der Brandung wandern ohne auf einen Ort zu treffen. Die Wege sind gut markiert. Die Markierungen sind kniehoch, robust aus einheimischem Hartholz gefertigt und fügen sich harmonisch in die Landschaft ein. Verantwortlich dafür ist die Rota Vicentina. Der gemeinnützige Verein wird durch die Region, durch Landesmittel für Tourismus und aus Geldern der Europäischen Union finanziert. Das kleine Büro liegt in einer  Seitengasse von Odemira. In dem rechteckigen Raum stehen drei braune Resopaltische für Besprechungen, ein Beamer für die Präsentationen, die eine Längswand besteht aus einer riesigen sechs Meter langen Landkarte auf der sich  jedes landschaftliche Detail des Alentejo findet. Zwei Personen arbeiten hier und ihre Jobbeschreibung ist so schlicht wie herausfordernd: aus dem Alentejo eine Region für sanften Tourismus zu machen. 

 

Das Projekt startete 2013. Inzwischen ist viel passiert. Gegenwärtig gibt es 740 Kilometer Wanderwege entlang einer der schönsten und besterhaltenen Küstenzonen Europas. Dieses Wegenetz wurde mehrfach ausgezeichnet und erhielt durch die Europäische Wandervereinigung das höchste Qualitätsprädikat Leading Qualitity Trails -Best of Europe. Viele der Routen sind Rundwanderwege, die die line behind the coast, also das Gebiet zehn oder fünfzehn Kilometer hinter der Küstenlinie mit einbeziehen. Damit werden kleine Orte, die sonst immer im Schatten des Küstentourismus liegen, erschlossen und machen auf weitere Erkundungen neugierig. Alle Städte des Alentejo sind architektonische und historische Perlen. Die Städte Evora, Elvas und Ammaia wurden durch die Römer gegründet, die zahlreiche noch heute gut erhaltene Landgüter anlegten. Bis in das 12.Jahrhundert wurde der Landstrich von den Mauren beherrscht und bildete mit al-Andalus eine der Zentren der Gelehrsamkeit in Europa. Im sechzehnten Jahrhundert wurde in Evora durch die Jesuiten eine der ältesten Universitäten Europas gegründet. Dort studieren heute 9000 junge Menschen. Die touristische Erschließung dieser Orte ist eines der wesentlichen Anliegen der Rota Vicentina. So gibt es mehr als 1000 Kilometer Fahrrad-Strecken, unterteilt in vier Schwierigkeitsgrade. Diese bislang kaum bekannten Touring-Bike Routen durchziehen Berge, Täler mit kleinen Orten, gelegen im Weideland mit Korkeichen, den Montadas. Rota Vicentina legt aber nicht nur Wanderwege und Radwege an. Gleichzeitig bilden mehr als 200 angeschossene Kleinstunternehmen aus Unterkünften, Restaurants, Tourismusveranstaltern, Animateuren, Transportunternehmen und lokalen Einzelhändlern ein Netzwerk von Dienstleistungen, die es ermöglichen, die Region umfassend zu erschließen. Und einzelne dieser Kleinstunternehmen sind bereits acht oder zehn Monate im Jahr beschäftigt und konnten damit ihre Aktivitäten von der kurzen Hauptsaison entkoppeln. Das wundert nicht. Wer den Salzgeruch, den Wind und das Licht dieser Landschaft und Städte im Oktober oder November gespürt hat, entwickelt leicht die saudade, die Sehnsucht nach all dem.
 

Armes Land, reiches Land


Wer vergleichbare Landstriche in Europa kennt, wie beispielsweise die südliche Atlantikküste Frankreichs, ahnt das touristische Potential, das im Alentejo schlummert. Um es zu entwickeln, bedarf es der Kreativität, des Einfallsreichtums und des Wagemuts gut ausgebildeter, junger Menschen. Deshalb bietet Paulo Jakob, wie anderen Jugendzentren im Alentejo auch, Workshops und Seminare zum Thema Entrepreneurship an, die die personalen Kompetenzen fördern und stärken. Planspiele sind da ein erster Schritt. Auch für Lehrkräfte. Die Kooperation von fortschrittlicher Jugendarbeit, Schulen und Kleinstunternehmen wäre ein echtes powerpack für regionale und lokale Innovationen. Soweit ist es noch nicht, aber der Weg schein vorgezeichnet und es liegt so etwas wie verhaltener Optimismus in der Luft. Dieser zarte Windhauch Richtung nachhaltigem, naturnahen Tourismus kann jedoch in Turbulenzen geraten. 2016 begannen vor der Algarveküste Probebohrungen auf der Suche nach Ölfeldern. Das ist zwar nicht die Atlantikküste des Alentejo, aber sollten dort tatsächlich eines Tages Ölplattformen stehen, werden Touristen geografisch kaum unterscheiden. Unmittelbarer ist jedoch die Bedrohung durch den einsetzenden Trend, landwirtschaftliche Produkte ganzjährig unter Plastikfolien zu züchten. Schon jetzt gibt es Grundwasserprobleme. Wie sich eine solche Landwirtschaft auf Ökosysteme auswirkt, lässt sich in Spanien und Griechenland beobachten. Dort werden Städte in wenigen Jahren massive Wasserversorgungsprobleme haben. Dennoch spielt die europa- und weltweite Bewegung „Fridays for Future“ bei Jugendlichen im Alentejo keine Rolle. Fragt man danach, ist ein Schulterzucken die Antwort. Jugendliche beschäftigt eher die Frage, ob sie die Region verlassen müssen, um Arbeit zu finden, ob sie nach Lissabon oder Porto oder gar ins Ausland gehen müssen. Eine Grüne Partei nach mitteleuropäischem Vorbild gibt es nicht. Es gibt als alternative Protestpartei lediglich die Pessoas Animais Nutureza (PNA), die bei den Parlamentswahlen Mitte Oktober 2019 rund 3,3 Prozent erhielt und als „Tierrechtspartei“ eine Art radikalen Veganismus propagiert. Außerordentlich bemerkenswert ist, dass die Portugiesen bisher praktisch keine rechtspopulistische Partei in das Parlament gewählt hatten. Auch bei den letzten Wahlen erhielt die rechtsextreme Chega wie vor vier Jahren 1,3 Prozent und einen Abgeordnetensitz.

Sensationell ist das Abschneiden der Partido Socialista (PS), die 36,6 Prozent erhielt, und viereinhalb Prozent hinzugewann. Das ist zweifellos dem Ausnahmepolitiker Antonio Costas zu verdanken, der zuvor als Oberbürgermeister von Lissabon amtierte, seit 2015 Premierminister und gleichzeitig Generalsekretär der PS ist. Gegen jede Wahrscheinlichkeit gelang ihm in der letzten Legislaturperiode ein Bündnis mit der Kommunistischen Partei und dem Linken Block, das zwar die Konsolidierungsziele der „Troika“ erfüllte, aber mit gänzlich anderen Methoden als gefordert. Der Mindestlohn wurde schrittweise auf jetzt 600 Euro monatlich angehoben, die Privatisierung von staatlichen Dienstleistungen wie öffentlicher Nahverkehr oder Wasserversorgung rückgängig gemacht oder abgelehnt. Ein sozialpolitischer Kahlschlag konnte verhindert werden. Die PS ist damit als einzige sozialistische Volkspartei des Kontinents übriggeblieben und Portugal ist einer der ganz wenigen Staaten der EU ohne rechtspopulistische Partei, die die liberale Rechtsstaatlichkeit in Frage stellt. Leider fiel die mediale Würdigung dieser Leistungen in Deutschland eher spärlich aus. Dort, wo solide gearbeitet wird, fehlt die mediale Aufmerksamkeit. Schon allein deshalb wünschte man sich einen intensivierten Austausch zwischen Jugendlichen beider Länder, zwischen Lehrkräften, Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeitern und jungen Entrepreneuren.
Die Erkenntnisse beider Länder könnten so manche Idee zum Funkeln bringen und die eine oder andere Unternehmung glänzend anregen. Und: Die portugiesische Kultiviertheit, das angeregte Gespräch bei Tisch, die zugewandte Offenheit auch in provinziellen Orten, bilden im besten Sinne.