Erfahrungsberichte Israel

Foto: Wolfgang Noack
Foto: Wolfgang Noack

Im Dezember 2017 hat sich eine PNJ-Reisegruppe in Haifa, Tel Aviv und Jerusalem zum Thema "Jugendkulturen" kundig gemacht.

 

Etliche sehr gute Berichte hat schon Jana Wagner über WDR-Cosmo veröffentlicht.

 

Dorothee Crönert beschäftigt sich auf dem Blog des Deutschen Jugendherbergsverbandes Youpodia mit der Frage, was die Vorzüge einer Reise nach Israel sind, und was junge Menschen dort erwartet.

 

Und der Kollege Wolfgang Noack hat auf seiner Website eine beeindruckende Fotoreihe online gestellt.

 

2014 - Programm in Deutschland: 
Historische Erfahrungen und ihre Auswirkungen auf die Jugend heute

 

Bastian - links - mit israelischen Kollegen Yoram und Yoram

Für 2014 haben wir uns ein schwieriges Thema vorgenommen. Im April war eine israelische Gästegruppe in Berlin, mit der wir ein voll gepacktes Programm in verschiedenen Einrichtungen absolvierten. Wie spannend das Thema für uns alle sein kann, beschreibt Bastian Glumm. Der Journalist begleitete uns die meiste Zeit über und dokumentierte die Erkenntnisse unserer Gespräche in einem langen und sehr, sehr guten Artikel. Danke dafür!

 

2013: Möglichkeiten und Chancen der multikulturellen Gesellschaften in Deutschland und Israel

Israel ist – genauso wie Deutschland – ein Einwanderungsland. Genau genommen verdankt Israel seine heutige Struktur und seine Vielfalt den Menschen, die in verschiedenen Einwanderungswellen ins israelische Staatsgebiet zogen. Eine bunte Mischung, die Juden aus aller Welt eine neue Heimat bieten wollte und will, und die mit dem Potential seiner hinzu gekommenen Menschen binnen weniger Jahre einen florierenden und weithin geachteten modernen Staat aufgebaut haben. Alles prima, könnte man also denken. Aber so einfach ist das auch in Israel nicht, wo die jüdischen Wurzeln zwar einen wichtigen Zusammenhalt in der Gemeinschaft bilden, wo aber die Vielfalt natürlich auch viele Probleme birgt. Unser Informationsprogramm hat die verschiedenen Facetten der Einwanderungsgesellschaft beleuchtet - und so bunt wie Israel selbst, so sind auch die Berichte unserer Teilnehmer dazu.

Blogs von Frances Teuchert

 

Unsere Kollegin Frances Teuchert hat sich in ihren beiden Reiseblogs Frances on tour und Frances Travel Blog sehr eingehend mit dem Land und seinen Menschen beschäftigt - viele Migranten sind ihr dabei begegnet!

 

Begegnungen der anderen Art
Freiwilligendienst im Ausland liegt im Trend – vor allem nach Israel

von Jürgen Spieß

 

Freiwillige soziale Arbeit leisten und damit in der ganzen Welt herumkommen: Das ist ein Trend, der sich bei jungen Menschen immer mehr durchsetzt. Melinda Hahn ist eine von vielen, die gerade ein freiwilliges Jahr in Israel verbringt.

 

Wer durch die Altstadt im israelischen Haifa wandert, dann am Carmel-Center vorbei den Carmel Berg erklimmt, stolpert leicht hinein. In das Beit Rutenberg Institut mit seinen zwei Jugendgästehäusern, den Tagungsräumen, Klassenzimmern und seiner umfangreichen Bibliothek.

 

Dort bietet das Non-Profit-Institut seit 1973 Aktivitäten für Jugendliche an und bildet Jugendleiter, Lehrer und Gemeindearbeiter aus Israel und aus dem Ausland aus. Sozusagen ein offenes Haus als geistige Tankstelle, in dem jeder willkommen ist – Juden, Christen und Muslime ebenso wie orientierungssuchende Europäer. Neben dem Gästebereich für Einzelgäste und kleine Gruppen sind die Türen weit geöffnet für Gelegenheitsbesucher, für Touristen und Pilger, und nicht zuletzt für die jungen Deutschen, die einen Freiwilligen Sozialen Dienst in Israel oder in den palästinensischen Autonomiegebieten leisten. Für sie ist das Rutenberg Institut eine Heimat fern der Heimat geworden.

 

So wie für die 18-jährige Melinda Hahn, die seit vier Monaten hier lebt und arbeitet, aber sich nach eigenen Aussagen „bereits nach kurzer Zeit heimisch gefühlt hat“. Aus Dortmund ist sie für ein Jahr hierher gekommen, um die Zeit zwischen Abitur und Studium sinnvoll zu überbrücken. Jetzt heißt es: Ab und zu Aushelfen in der Küche, Mithelfen im Rutenberg-Büro, wenn es die Zeit erlaubt Häbräisch büffeln und Ausflüge mit den Gästen des Hauses unternehmen: „Häbräisch konnte ich vorher nicht“, gibt Melinda zu, „doch das war wegen der Internationalität hier auch nicht nötig“.

 

Ihr geht es darum, mit Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammen zu arbeiten und Israel als Land kennenzulernen: „In den deutschen Medien wird Israel ausschließlich auf den Konflikt mit den Palästinensern  reduziert, auf Terroranschläge und Vergeltungsangriffe. Dabei hat das Land und ihre Bewohner soviel mehr zu bieten.“ Melinda Hahn, die nach ihrer Rückkehr nach Deutschland Theologie studieren will, hat ihren einjährigen Aufenthalt nicht über ein Netzwerk organisiert, sondern sich direkt beim Beit Rutenberg Institut beworben.

 

Der 24-jährige Stephan Degenhardt aus Köln gehört dagegen zu den Deutschen, die über eines der zahlreichen bundesweiten Netzwerke nach Israel vermittelt wurde, um dort ein zehnmonatiges Praktikum zu absolvieren. Er arbeitet derzeit in Ramat HaSharon bei Tel Aviv in einem Heim für Autisten. Unterkunft, Verpflegung und 1200 Schekel  (rund 250 Euro) Taschengeld im Monat werden vom Heim übernommen, den Flug bezahlte die Kölner Freiwilligenagentur, die Degenhardts freiwilliges Jahr organisierte: „Für mich ist das ein Bonus im Lebenslauf und für den Arbeitsmarkt später wichtig. Vor allem aber fördert es die persönliche Entwicklung“, ist Degenhardt überzeugt.

 

Das hat auch die ehemalige Tübinger Schülerin Isabell Wolters erfahren. Sie war mit dem bundesweiten Netzwerk von YAP-cfd (Youth Action for Peace, christlicher Friedensdienst) sechs Monate beurlaubt und hat ebenfalls einen Monat in Haifa verbracht und fünf in der arabischen Kleinstadt Sachnin, wo sie in einer Frauenorganisation mithalf. „Die Frauen dort langweilen sich, dürfen keine Gymnastik machen, kein Instrument spielen. Dinge, die hier selbstverständlich sind“, berichtet sie über ihre Erfahrungen.

 

Zurück in Tübingen sieht sie die Verhältnisse mit anderen Augen. „Ich verstehe jetzt, warum Frauen sich mit Kopftuch bedecken, weil ich die Kultur besser kenne. Ich finde das jetzt nicht mehr komisch. Im Endeffekt sind wir doch alle gleich.“

Rachelis Welt heißt Yenim Orde

 

Unser Kollege Thomas Becker hat die äthiopische Einwanderin Racheli getroffen und einen Bericht über die beeindruckende Frau auf fluter.de veröffentlicht.

Im Portrait - die Politikerin Yulia Shtraim

von Cecilia Bühler

 

Sie hat eine steile Karriere hinter sich – die ukrainische Einwanderin schlug sich nach ihre Auswanderung ins israelische Haifa mit Putzjobs durch. Heute ist sie stellvertretende Bürgermeisterin der Stadt. Ihr Ziel: so viele Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunionwie wie irgend möglich ins Heilige Land zu holen.

Hier die Hebräisch-Kurse für russische Einwanderer, dort das Museum, Büro, Pressesprecher - was noch? Yulia Shtraim, Chefin der Einwanderungsbehörde in Haifa und gleichzeitig stellvertretende Bürgermeisterin der drittgrößten Stadt Israels hat kaum Zeit. Gleich beginne die Telefonschalte nach St. Petersburg. Worum es da gehe? „Israel verstärken“, sagt sie kurz angebunden. So viele osteuropäische Juden wie möglich zum Umzug ins Heilige Land zu bewegen, das sei ihr Ziel, sagt die resolute Frau mit dem Pferdeschwanz, die spontan entscheidet, es sei doch Zeit das Gespräch im Büro weiterzuführen und nicht auf den Gängen der Einwanderungsbehörde.

Der Hintergrund ist, dass in dem multikulturellen Land heute bereits jeder fünfte Israeli arabischer Abstammung ist. Wenn Israel seinen Charakter als jüdischer Staat behalten wolle, dann müssen mehr Juden einwandern in das Land, sehr viele sogar, meint die Politikerin. Auch wenn sich 2013 in Israel fast 19.200 Juden niederließen – ein Plus von 1,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr laut Immigrationsministerium. Und der Staat tut viel, um den Neuankömmlingen den Start zu erleichtern – Wohnungen, Sprachkurse, Hilfe bei der Arbeitssuche. Was ist mit denen, die nur auf die Sozialleistungen aus sind? Auch die seien willkommen, meint Yulia Shtraim: „Jeder Jude ist hier willkommen und wird gebraucht. Alle können kommen“.

Sie selbst ist nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Israel gekommen, zusammen mit ihrem Mann, einem Ingenieur für U-Boote. In der Ukraine nahmen in der Zeit antisemitische Übergriffe auf Juden zu, erzählt sie. Nach ihrem Psychologiestudium haben sie dann die Koffer gepackt und sind ins israelische Haifa gezogen. Mit Putzjobs hielt sie sich die ersten Jahre über Wasser. Um Geld zu verdienen, heuerte sie Anfang der 90er Jahre als Wahlhelferin bei der Likud-Partei an. 

Avigdor Liebermann – selbst eingewandert aus Moldawien und heute israelischer Außenminister - wurde auf die zupackende Frau aufmerksam und holte sie in seine Partei „Israel ist unser Haus“. Lieberman ist Vorsitzender der ultrarechten Partei Israel Beitenu (Unser Haus Israel), eine der größten Parteien im Land, die sich auf die Stimmen der Einwanderer aus den ehemaligen Sowjet-Republiken stützt. Die Partei bildet mit der rechtsorientierten Likud-Partei von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ein Wahlbündnis, das über 31 von 120 Sitzen im Parlament verfügt. 

Dorthin in die Knesset will es Yulia Shtraim schaffen – als Ministerin für Einwanderung. „Und ein wenig Zeit für Enkel wäre auch nicht schlecht“, sagt sie kokettierend. So ganz will man ihr das nicht abnehmen, hinter ihrem Schreibtisch hängt ein fast lebensgroßes Bild von Julia Timoschenko – versehen mit dem Konterfei von Yulia Shtraim. 

Von der Zielstrebigkeit und Ausdauer ihres Vorbilds Timoschenko mal abgesehen – was macht sie so beliebt bei den Israelis? Natürlich wählen osteuropäische Einwanderer am meisten die Partei, die sich für ihre Interessen einsetzt, meint Shtraim. Aber das Wichtigste für einen Politiker sei: „Sie müssen ansprechbar sein für die Leute“, sagt Yulia Shtraim. In Haifa kennt die stämmige Frau mit dem starken Make-up jeder. Die passionierte Köchin verrät regelmäßig in der Lokalzeitung ihre liebsten Rezepte - und habe so mit den Hausfrauen in Haifa immer ein Gesprächsthema mit der Politikerin. Ihre Spezialität sind übrings Blinchis – ein russischer Importschlager in Israel vergleichbar etwa mit Eierpfannkuchen. 

zum Weiterlesen:

http://www.haaretz.com/print-edition/news/elections-2009-arab-reporters-banned-from-campaign-meet-of-lieberman-s-far-right-party-1.269759


http://www.sueddeutsche.de/politik/israel-lieberman-kehrt-als-aussenminister-zurueck-1.1815354
    

Generationengerechtigkeit, Generationensolidarität - und ein Krieg im November 2012

Am 9. - 15. November 2012 war unsere fünfköpfige Gruppe in Israel unterwegs, um sich über das spannende und vielseitige Themenfeld "Generationengerechtigkeit und Generationensolidarät" zu informieren. Passend zum Europäischen Jahr für aktives Altern war das Programm voll mit interessanten Begegnungen,

 

Informationsgesprächen, Projektbesuchen.

Und dann kam der Krieg in den Nahen Osten. Raketen aus Gaza töteten Zivilisten in Südisrael, die israelische Armee antwortete mit der Bomben auf Gaza, und einezlne Raketen schlugen sogar in Tel Aviv ein. Für Deutsche der Nachkriegsgenerationen ein ebenso unbekanntes wie beklemmendes Szenario: Raketenalarm bei einer Informationsreise.

 

Alle unsere TeilnehmerInnen sind gesund nach Hause zurück gekommen. Unsere Freunde in Israel haben die Angriffe unverletzt überstanden. Seit elf Jahren führen wir Fachkräfte-Austauschprogramme mit Israel durch. Wie sehr wünschen wir den Menschen in Israel und in Palästina Frieden und ein Leben mit einander, neben einander statt gegen einander.

Hier die Berichte unserer KollegInnen, die eine teilweise viel zu spannende Woche im Nahen Osten erlebt haben.

 

Eindrücke
von Bernd Gasser

 

Bernd Gasser ist Angestellter im Berliner Senat für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Aus einer langen Betreuung seiner schwerstkranken Mutter heraus wollte er wissen: Wie gehen Menschen in Israel mit dem Thema Sterben um, wie hilft die israelische Gesellschaft, wie werden junge Israelis an denThemenkomplex Altern & Sterben heran geführt. Sein ausführlicher Bericht, der unsere Programmwoche eindrucksvoll widerspiegelt, ist hier hinterlegt.

 

Junge Deutsche und alte Israelis
von Klaus Martin Höfer

 

Klaus Martin Höfer berichtete am 16.11.2012 in seiner aktuell in Haifa produzierten Sendung cogniRADIO, dem Bildungs- und Wissensmagazin von multicult.fm, über junge Deutsche, die in Israel  einen Freiwilligendienst absolvieren. Dann, als der Krieg eskaliert, befragt er seine Interviewpartner noch einmal. In dieser Sendung vom 23. November kamen dann auch Freiwillige von Aktion Sühnezeichen Friedensdienst zu Wort. Die Interviews gibt es auch als podcast im cogniRADIO-blog. Dort ist auch ein Interview mit Moshe Raviv zu hören. Der ehemaligen Botschafter Israels in London hat eine Organisation gegründet, die das Erfahrungswissen von Pensionären nutzt und sie als Unterstützungslehrer in Schulen schickt, u.a. auch solchen mit einem hohen Migrantenanteil.

 

Klaus Martin Höfer vermittelte außerdem dem WDR eine der Freiwilligen aus Haifa als Interviewpartnerin. Sie erzählte am 19.11.2012 morgens  auf WDR2 aktuell von ihren Eindrücken während der Krise im Gazastreifen. Fotos von der Informationsreise hat Klaus Martin Höfer auf seinerFotoseite eingestellt.

 

Fünf Stunden Verstand
Mit Freiwilligenprogrammen für Senioren, Kibbuzim und Sport- und Gemeinschaftszentren verbindet Israel Kulturen
Von Kristin Haug

Jahrelang ist er über die Meere der Welt gefahren. Jahrelang steuerte er als Kapitän Mannschaft und Fracht durch Stürme, Seestraßen, an Inseln vorbei, zu Häfen. Oded Pelzmann hatte Verantwortung, musste gut organisieren, gut planen können, musste Streitigkeiten schlichten, verhandeln. Der 66-Jährige sieht nicht aus wie ein mürrischer raubeiniger Seemann. Pelzmann sieht aus wie ein Großvater. Weiße Locken, Brille und unter dem Hemd drückt sich ein Bauch durch. An den Armen ist Pelzmann tätowiert  - stumme Zeugen seiner Vergangenheit. Irgendwann vor zwei Jahren wurde er zu alt für die See, vielleicht zu schwach für die Gewalten der Natur. 62 Jahre war er da.

 

In der Leo-Baeck-Schule in Haifa kleben bunte Bildchen an den Wänden. Die Flure sind blitzblank geputzt. Und vor dem Eingang und dem kleinen Sportplatz vor der Schule stehen Wachmänner. Die Schule, die nach dem letzten Oberhaupt der jüdischen Bürger im Dritten Reich benannt wurde, ist Oded Pelzmanns Sinngebung, seine Zukunft. 455 Kinder kommen jeden Tag in der Woche hierher, um zu lernen, sich im Leben zurechtzufinden – oder um zu erkennen, was es bedeutet ein Bürger Israels zu sein. Viele stammen aus der ehemaligen Sowjetunion, dem Sudan, Äthiopien oder dem Libanon. Einige von ihnen sind vor Krieg und Verfolgung geflohen und rund 90 Prozent von ihnen sprechen zuhause eine andere Sprache als hebräisch. Auch in den Pausen finden sie sich zusammen, reden russisch oder arabisch. Blenden ihre neue Heimat aus.

Um die Distanz zwischen Israel und Russland, Äthiopien oder dem Libanon zu verkleinern, kommt der alte Kapitän jeden Dienstag in die Schule. Er spricht mit den Kindern hebräisch, füllt die sprachliche und erzieherische Lücke, die Eltern hinterlassen, die sich selbst erst in einem neuen Land zurechtfinden müssen. Pelzmann arbeitet  für Yedid La Chinuch. Seit 2008 gibt es die Organisation in Israel, die Pensionäre an Schulen vermittelt, um ehrenamtlich Nachhilfe zu geben. Einige Rentner üben mit den Kindern lesen und schreiben, andere basteln und stricken mit ihnen, unterrichten sie in Gitarre oder verleihen Bücher aus der Bibliothek. „Irgendwas muss man machen“, sagt Oded Pelzmann. Irgendwie muss man seinem Leben einen Sinn geben. Über das Internet fand Pelzmann Yedid La Chinuch und dachte, das schaut er sich mal an.

 

Yedid La Chinuch ist nicht die einzige Initiative, nicht das einzige Konzept des Zusammenwirkens in Israel, das Generationen miteinander verbindet. Israel hat längst erkannt, wie sinnvoll es ist, wenn alle Generationen zusammenarbeiten – wie sinnvoll Paten- und Partnerschaften sind. Es gibt viele Freiwilligenorganisationen – die Volontäre aus der ganzen Welt nach Israel kommen lassen, weil sie Gutes tun wollen. Viele von ihnen arbeiten in Seniorenheimen und

 

Krankenhäusern, um zu pflegen, zu stützen und zu reden. Einige von ihnen helfen auch in einem der rund 270 Kibbuzim, die es im Land gibt. In den Siedlungen leben heute noch rund 100.000 alte und junge Menschen in einer Gemeinschaft. Jeder kennt sich, viele sind füreinander da. Senioren passen auf Kinder auf oder geben ihnen auch hier Nachhilfe. Und Jugendliche pflegen die Gärten oder kümmern sich um die Haustiere älterer Nachbarn.  Vor allem für ältere Menschen ist das Kibbuz ein Ort der Geborgenheit. „Versammlung“ bedeutet Kibbuz auf hebräisch. Mittags essen die Generationen meist in gemeinsamen Speisesälen zusammen. Das Essen wird geteilt. Seit mehr als 100 Jahren existiert das Konzept des Kibbuz. In Degania unweit des Sees Genezareth entstand die erste Gemeinschaft.

 

Während sich Deutschland noch über Mehrgenerationenhäuser freut, oder über Kindergärten, die an Seniorenheime angeschlossen sind – hat Israel schon längst begriffen, wie ein Zusammenleben von jungen und alten Menschen funktioniert. Das hat auch Chico verstanden. Er war früher einmal Kommissar bei der Polizei, seine Haut ist gebräunt und der Schnurrbart gestutzt. Chico war als Polizist beliebt – und er ist es auch jetzt noch in der Leo-Baeck-Matnas, einem Sport- und Freizeitzentrum in Haifa. Sechs Kindergärten sind an die Matnas angeschlossen, alle Altersklassen kommen hier zusammen.  Seit zwei Jahren ist Chico in Rente und organisiert  als Freiwilliger Sportkurse, Tanzabende und Ausflüge, etwa auf der Via Dolorosa den Spuren Jesu Christis folgen. Um die Generationen zu verbinden, spricht er die Eltern der Kindergartenkinder an – und überredet sie, sich an den Angeboten zu beteiligen.  Seit 20 Jahren gibt es diese Gemeinschaftszentren in Israel.

 

„Ich war nie Lehrer“, sagt Kapitän Pelzmann in der Leo-Baeck-Schule. Doch er kann Englisch sprechen, versteht etwas von Computern, von Schach und Handball. Und er kann viele Seefahrergeschichten erzählen. Das beeindruckt die Kinder. Der Rentner versteht nicht, warum manche Schüler elementare Dinge nicht wissen. „Manche können nur digitale Uhren lesen, aber nicht, wie sie Minuten- und Stundenzeiger deuten sollen“, sagt er. An der Leo-Baeck-Schule kümmert sich Pelzmann um einen russischen Jungen aus der fünften Klasse. Manchmal begleitet er ihn einfach mit in den Unterricht, setzt sich neben ihn, gibt ihm Selbstbewusstsein, Rückhalt – so wie es große Brüder tun oder beste Freunde . Manchmal greift Pelzmann dann den Arm von seinem Schützling und zieht ihn in die Höhe. Er soll wissen, wie es ist, sich zu melden - auch wenn er die Antwort gar nicht weiß. Pelzmann sagt dann zu ihm: „Aber du könntest es wissen. Das nächste Mal kannst du dich allein melden.“

 

Rund 1.600 Rentner engagieren sich in mehr als 260 Schulen bei Yedid La Chinuch. „Wir haben uns gefragt, wie wir die Erfahrung und das Wissen der Pensionäre nutzen können“, sagt Moshe Aviv, der Yedid La Chinuch mitgegründet hat. Mit vielen Menschen hat er damals gesprochen und herausgefunden, dass Rentner helfen wollen, dass man die Kapazitäten nutzen muss. Nur vier Menschen bezahlt die Organisation ein kleines Gehalt – alle anderen arbeiten ehrenamtlich. In jeder Stadt gibt es Organisatoren, die den Senioren Nachhilfekinder vermitteln. Jeder Volontär wird gebeten einen Tag zu spenden, von 8 Uhr morgens bis 13 Uhr am Mittag oder 13 Uhr bis 18 Uhr am Nachmittag. Fünf Stunden, die alte und junge Menschen, Israelis und Einwanderer, Sinn und Verstand miteinander verbinden.  

 

Das Jahr 2011 stand für unsere Programme unter dem Themenschwerpunkt "Ehrenamtliches Engagement junger Menschen".

„Am Ende umarmten und küssten uns die arabischen Kinder“
von Stephan Degenhardt

Ob Sheked oder Daniel, Muhammed oder Lina, ob Mädchen oder Junge, muslimisch oder jüdisch: Am Anfang stand bei allen die Angst. Die Angst vor den Anderen. Araber fürchteten sich vor Juden, Juden vor Arabern. Doch die Angst ist schnell gewichen. Die Jugendlichen, zwischen 16 und 18 Jahre alt, machten mit bei Projekten, die junge Araber und Juden aus Israel auf unkonventionelle Weise zusammenbringen wollen: einem Sommer Camp und einem Musical. Initiator dieser Projekte ist das Leo-Baeck-Zentrum in Haifa, eine der bekanntesten und liberalsten Bildungseinrichtungen Israels mit etwa 2.500 Schülern. Stefanie Horn, die am Zentrum die deutsche Abteilung leitet, erklärt, warum solch Projektarbeit wichtig ist: „In der Gesellschaft isolieren sich arabische und jüdische Jugendliche innerhalb ihrer eigenen Gruppen. Dem wollen wir entgegenwirken.“

 

Auch Sheked und Daniel hatten kaum Kontakt mit arabischen Kindern und Jugendlichen. Sie sind beide jüdisch und besuchen die Oberstufe des Leo-Baeck-Zentrums. Vor fast genau einem Jahr setzten sie sich dann einem interkulturellen Schock aus: Sie nahmen als Gruppenleiterinnen beim arabisch-jüdischen Summer Camp teil, das seit 1991 jährlich im Leo-Baeck-Zentrum stattfindet. Dort mussten sie für jüngere arabische Kinder Verantwortung übernehmen und mit arabischen Jugendlichen in ihrem Alter zusammenarbeiten. Obwohl sie zuvor geschult und sensibilisiert worden waren, fürchteten sie sich vor den Anderen. Nach elf Tagen im Camp wurde aus Angst aus Freundschaft. „Am Ende umarmten und küssten uns die arabischen Kinder“, sagt Daniel.

 

 Im Camp betreuten Sheked und Daniel  jeweils eine Gruppe von Kindern im Alter  zwischen sechs und zwölf Jahren. Das  Besondere: Jede Gruppe bestand je zur  Hälfte aus arabischen und jüdischen Kindern  und hatte sowohl einen jüdischen als auch  einen arabischen Leiter. Die Kinder sollten  die jeweils Anderen kennenlernen, ihre  Kultur, ihre Religion und ihre Sprache. Am  zweiten Tag etwa spielten sie muslimische  und jüdische Hochzeitsrituale nach. Am sechsten Tag entwickelten sie auf eigenen Wunsch ein arabisch-hebräisches Wörterbuch, um besser miteinander kommunizieren zu können. Die Kinder waren begeistert:  90 Prozent von ihnen wollen nochmal am Camp teilnehmen.

 

Vor jedem Camp sei es jedoch schwierig, genug Teilnehmer zu finden, sagt die Leiterin Samia Diab. Die Eltern, vor allem die jüdischen, hätten große Sorgen und viele Fragen – etwa, ob die Aufteilung der Gruppen auch wirklich 50/50 sei. Auch die Eltern von Sheked und Daniel hatten Bedenken. „Meine Eltern glauben, dass es nie Frieden mit den Arabern geben kann“, sagt Sheked. Sie sieht das nach den elf Tagen im Camp anders. Mit den arabischen Jugendleitern ist sie mittlerweile befreundet; die Angst und die Vorurteile sind weg. Ihre Kinder will sie einmal zur Toleranz gegenüber anderen Kulturen erziehen, denn sie findet: „Die Erziehung der Kinder ist das Wichtigste, um Frieden zu schaffen.“

 

Um Frieden, Dialog und Konfliktbewältigung geht es auch im arabisch-jüdischen Musical „Step by Step – Sauwa-Sauwa“, das das Leo-Baeck-Zentrum gemeinsam mit einer arabischen Schule aus Haifa organisiert. 40 Jugendliche, 25 jüdische und 15 arabische, trafen sich monatelang, um Gesang und

Tanz einzustudieren. Die Premiere im März  sei ein großer Erfolg gewesen, sagt Stefanie Horn. „Die Schüler lagen sich weinend in den Arm-en und die Familien im Publikum waren außer sich. Beides haben wir nicht als selbstverständlich erachtet.“ Denn am Anfang gab es Probleme. Die arabische Schülerin Lina schildert ihr Unbehagen: „Ich hatte Angst mit den jüdischen Schülern zu kommunizieren. Es ist schwierig, wir haben unterschiedliche Religionen, sprechen unterschiedliche Sprachen.“ Für die Jugendlichen war es schwierig, sich als ein Kollektiv auf der Bühne zu verstehen.

Doch Probe für Probe wuchs das Gruppengefühl. Die Jugendlichen machten die Spannungen zwischen Juden und Arabern zum Hauptthema des Musicals. Tanz, Gesang und Schauspiel rissen die Sprachbarrieren nieder. Die Dialoge sind auf Arabisch, Hebräisch und Englisch. Nach und nach entdeckten die Jugendlichen Gemeinsamkeiten. Der 18-jährige Muhammed drückt das so aus: „Wir hören die gleiche Musik, tragen die gleiche Kleidung und haben die gleichen Probleme mit unseren Eltern. Das ist unser persönlicher Weg, Frieden zu finden.“ Im Musical fordern die Schüler das Recht ein, selbst zu entscheiden, mit sie Freundschaften und Beziehungen eingehen – unabhängig von Herkunft und Religion.

 

So schaffen Projekte wie das Musical oder das Sommer Camp konkret, was das Leo-Baeck-Zentrum erreichen will: Begegnungen herstellen, Gräben überwinden und versöhnen. Das Zentrum basiert auf den Prinzipien des progressiven Rabbiners Leo Baeck, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts für Vielfalt und Pluralismus einsetzte. Die Einrichtung ist, untypisch für Israel, eine jüdische Schule, die auch für Araber offen ist. Allerdings: Der Anteil junger Muslime dort ist  verschwindend gering. Arabische Eltern schicken ihre Kinder lieber auf arabische Schulen, die es in und um Haifa zuhauf gibt – und im Vergleich zu Leo-Baeck kein Schulgeld kosten.

 

Die Schüler des Zentrums sollen die liberalen Prinzipien Leo Baecks leben. Sie sind verpflichtet, sich sozial zu engagieren. Wie sie das machen, steht ihnen frei. So können sie etwa Shoah-Überlebende betreuen, in Frauenhäusern arbeiten, Nachhilfe geben, Essenspakete für bedürftige Familien zusammenstellen, an Projekten wie dem Musical teilnehmen – oder in einem der zehn Außenstellen des Leo-Baeck-Zentrums arbeiten. Auch für die Außenstellen gilt: Im Mittelpunkt steht die Friedens- und Versöhnungsarbeit zwischen Juden und Arabern. Es gibt zum Beispiel ein Lernzentrum für arabische Kinder oder ein jüdisch-arabisches Nachbarschaftszentrum.

 

All das lässt sich, wie das Musical oder das Sommer Camp auch, nur mit Hilfe von Spenden finanzieren. Außerdem gibt es ein Sportzentrum samt Turnhalle und Schwimmbad. Dort schwimmen jüdische und arabische Mitgliedern in einem Becken.  Stefanie Horn sagt deshalb: „Wenn wir es schon schaffen, dass Araber und Juden gemeinsam schwimmen, dann können wir auch die Spaltung in der Gesellschaft aufheben.“

 

Wehrdienst im Radio

Carola Dorner berichtet im Berliner Journalisten-Magazin NITRO Nr. 1-2012 über junge Israelis, die ihren Wehrdienst im Militärsender Galej Zahal absolvieren.

 

„Du musst etwas tun für Dein Land“
von Karl-Heinz Behr

 

„Ehrenamtliches, soziales und politisches Engagement junger Menschen in Israel“ war Thema einer Recherchereise des Pressenetzwerkes für Jugendthemen in Bonn. Fünf Fachkräfte der Jugendhilfe und Journalisten reisten für eine Woche nach Israel, besuchten Initiativen und Projekte und sprachen mit jungen Freiwilligen.

 

Oz ist ein guter Unterhalter. Selbst seine Erklärung des Wappens von Bnei-Akiva, den beiden Gesetzestafeln mit Sense und Ähre, bringt die Mädchen der Gruppe zum Lachen. Trotzdem ist dem 18jährigen die Sache ernst: Seit acht Jahren schon ist er aktiv bei der religiösen Jugendgruppe in Haifa, seit zwei Jahren ist er Gruppenleiter. Das Motto „Make your life holy“, das Bnei Akiva, der nach eigenen Angaben größte israelische Jugendverband, für dieses Jahr  ausgegeben hat, ist wichtig für ihn: Sein eigenes Leben leben und es zugleich heiligen - nur so werde das Leben ein Ganzes, interpretiert Oz den Leitspruch. Er selbst möchte nach dem Abitur im nächsten Jahr zur Armee, vielleicht zum Erziehungsdienst.

 

Zur Armee will auch die 15jährige Pfadfinderin Yuval, und „nicht etwa nur für die Zeit der Dienstpflicht“, die für Mädchen knapp zwei Jahre beträgt. Eine bedeutende Aufgabe möchte sie in der Armee erfüllen, Offizier werden vielleicht. Sie schüttelt ihre Lockenpracht. Schon jetzt ist die energiegeladene Schülerin vielseitig aktiv: neben ihrem Einsatz als Gruppenleiterin bei den Scouts ist sie Mitglied des Jugendrats von Gan Yavne, einer kleinen Gemeinde südlich von Tel Aviv. Außerdem ist sie Schülersprecherin und im Internet „Aktivistin bei der Präsentation israelischer Positionen“, wie sie selbst sehr staatstragend formuliert.

„Was in Deutschland Sportvereine oder Freizeitklubs, sind in Israel für viele Jugendliche die zahlreichen Jugendverbände“, schreiben Itay Lotem und Judith Seitz in ihrem Buch „Israel – Nah im Osten“ über die israelische Jugend.  „Hier können sie sich für das jüdische Volk einsetzen, leisten einen Beitrag für die israelische Gesellschaft, übernehmen Verantwortung als Gruppenleiter und knüpfen soziale Kontakte.“

 

 „Ich möchte etwas für mein Land tun“, ist häufig von  Jugendlichen zu hören, auch von Avishag, der 19Jährigen, die  im Rambam-Krankenhaus in Haifa die zweite Hälfte ihres  Zivildienstes absolviert. Sie wollte nicht zur Armee, weil sie  fürchtete, die jüdischen religiösen Gebote dort nicht halten zu  können. Nun arbeitet sie in der Babystation mit jungen  Müttern, was ihr mehr gefällt, als ihre vorherige Tätigkeit in  einem Seniorenheim in Tel Aviv. Ihre Kollegin Nardin hätte  eigentlich keinen Dienst machen müssen – sie ist als  israelische Araberin vom Wehrdienst frei gestellt. Aber die  18Jährige sieht die freiwillige Arbeit im Krankenhaus als  Chance, ihrem Dorf und der dortigen arabischen Gesellschaft  zu entkommen: „Bei Arabern wird man als Frau niedrig  angesehen“, bemerkt sie leise.  Sie möchte Krankenschwester  werden und hofft, mit ihrem freiwilligen Dienst später auch bei  einem jüdischen Arbeitgeber arbeiten zu können.

 

„Viele Araber sehen Israel nicht als ihr Land an“, ergänzt Shlomit Katzir. „Aber immer mehr glauben, dass sie auch etwas für das Land tun müssen, in dem sie leben und leisten einen Zivildienst. Zurzeit sind vier Prozent unserer Freiwilligen Araber, vor drei Jahren hatten wir noch keinen einzigen.“ Shlomit Katzir betreut seit zwölf Jahren die Freiwilligen im Rambam-Krankenhaus. Dieses Jahr sei das eine sehr heterogene, einzigartige Gruppe von 30 jungen Frauen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen diesen Dienst für die Gemeinschaft tun. Zum ersten Mal ist eine junge Mutter dabei. „Die Mädchen erwerben viele Kompetenzen bei diesem Dienst“, ist Katzir sicher, und der Zivildienst sei sehr anerkannt in der israelischen Gesellschaft. Nach dem Dienst genieße man die gleichen Privilegien, wie nach der Armeezeit: Ein Stipendium für die Berufsausbildung zum Beispiel oder Bonuspunkte für einen Platz an der Uni.

 

Freiwillig hatte Roib (Name geändert) seine dreijährige Pflichtzeit bei der Armee verlängert und er wäre noch geblieben, wenn er nicht bei einem Kampfeinsatz verwundet worden wäre. Trotz, oder vielleicht gerade wegen seiner erschütternden Erlebnisse in den „besetzten Gebieten“, ist er überzeugt, dass es dieses freiwillige Engagement brauche. Wenn Roib von der politischen Situation in Israel und seinen arabischen Nachbarn spricht, hebt er seine Stimme, die Sprache wird hart. Israel könne angesichts der Bedrohungen nicht anders handeln, als es dies zur Zeit tue. Das werde offenbar im Ausland überhaupt nicht begriffen, wie man an der europäischen Medienberichterstattung merke. Der junge Mann beschreibt ein beunruhigendes Bedrohungsszenario, das an eine Frontstadt erinnert. Das will so gar nicht passen zur friedlichen Szenerie einer winterlichen Abendsonne am Strand von Tel Aviv. „Shimon Peres war als Ministerpräsident die große Hoffnung auf Frieden“, fügt Roib an. Sein rasches Abtreten sei der „big loss“, der größte Verlust in der jüngeren Geschichte des Landes gewesen.

 

Kann sich in dieser militarisierten Gesellschaft, in der so viel freiwilliges Engagement in der Landesverteidigung gebunden ist, eine Zivilgesellschaft über-haupt entwickeln? Welchen „Dialekt spricht sie“, eher den des Ehrenamtes in festen, institutionalisierten, verbandlichen Strukturen oder den von Bürgerinitiativen, den der Protestkultur? Sind die Konflikte, die im Sommer 2011 hunderte zum Protestcamp

auf dem Mittelstreifen des prächtigen Rothschild-Boulevard und am 6. August bereits 300.000 Menschen zur ersten Demonstration in der Innenstadt von Tel Aviv zusammenbrachte, eher hinderlich, sich ehrenamtlich zu engagieren? Oder sagen junge Israelis: jetzt erst recht! Ich muss etwas tun! „Drückeberger gibt es nicht in der jüdischen Gesellschaft“, hatte Shlomit Katzir, in Bezug auf die Dienstpflichten der jungen Menschen erklärt. Und so scheinen Konflikte ehrenamtliches Engagement eher zu befördern, als zu behindern:

 

Die 200 Ehrenamtlichen der AGUDA, der National Association of GLBT (Gay, Lesbian, Bisexual and Transgender) zum Beispiel engagieren sich nicht nur für ihr eigenes Zentrum in der Nachmani Street in Tel Aviv. Das Zentrum wurde 2010 von orthodoxen Juden überfallen. Sie setzen sich für die Interessensvertretung der GLBT-community ein und für eine tolerante, offene Gesellschaft insgesamt. Die Freiwilligen im Café der Marienkirche am Rande von Jerusalems Altstadt öffnen ihren Begegnungsraum nicht nur für evangelische Christen sondern für alle, die gerne bei Apfelkuchen und Tee mit Menschen unterschiedlichster Weltanschauungen oder religiöser Orientierungen diskutieren möchten.

 

 Eine besondere Aufgabe haben junge  Äthiopier in ihren Gemeinden. In Ergänzung  zu den professionelle kommunalen  Förderstrukturen des Projektes „Shiluvim“ in  Haifa, arbeiten Avraham, Sigal und Eden als  Jugendleiter. Sie unterstützen behinderte  Kinder und stellen sich als Übersetzer zur  Verfügung. Die spezielle Situation  äthiopischer Einwanderer erfordert besondere  Hilfsstrukturen, um der Armut zu entkommen  und die Integration in die israelisch Gesellschaft zu schaffen. „Wir sind unseren Eltern sehr dankbar, dass sie diese Anstrengung auf sich genommen haben, nach Israel auszuwandern“, sagt Sigal ernst. Die 17Jährige ist schon in Israel zur Welt gekommen. „Die Eltern haben viel gelitten“, ergänzt ihre Freundin Mamei. „Auch wenn unsere Eltern unsere Unterstützung im Alltag brauchen und sie uns häufig zu vielen Dingen fragen müssen, bleiben sie doch unsere geistigen Lehrer.“ Es komme ja darauf an, die Integration in Israel zu schaffen und trotzdem seine eigenen, seine äthiopischen Wurzeln zu behalten.

Ein besonderes Idiom unter den Dialekten der Zivilgesellschaft sprechen die bürgerschaftlichen Initiativen, die sich für Frieden im Land einsetzen. Auch wenn der über 80jährige Friedensaktivist Ruven Moskovitz die israelische Friedensbewegung als „Armee ohne Soldaten (- nur Offiziere)“ bezeichnet, sind die Bemühungen vielfältig. Dabei geht es vor allem darum, den Frieden mit den arabischen Nachbarn voranzubringen oder mit den Palästinensern der West Bank. Dafür arbeiten das Shimon-Peres-Peace-Center in Jaffa und die NGO Shovrim Shtika („Das Schweigen brechen“). Sie gibt den ehemaligen Soldaten eine Stimme, die in Palästinensergebieten eingesetzt waren.

 

Seit über 20 Jahren organisiert das Leo-Baeck-Institut in Haifa ein arabisch-jüdisches Sommerlager. „Wir müssen die gegenseitigen Vorurteile schon im Kindesalter abbauen“, begründet Stephanie Horn vom „Leo-Baeck“ die Motivation für diese „Erziehung zur Toleranz“.  Schaket und Danielle sind erst knapp 17. Sie hatten beim letzten Sommerlager eine der Gruppen geleitet, die jeweils zur Hälfte mit jüdischen und arabischen Kindern besetzt sind. Zwei Wochen lang kümmerten sie sich mit 18 weiteren Jugendleitern um etwa 100 Kinder. Da viele arabische Kinder nur schlecht oder gar nicht hebräisch sprechen, ist die Sprache ein großes Thema neben dem kulturellen, dem Werk- und Aktionsprogramm. Ein arabisch-hebräisches Wörterbuch sei während des Sommerlagers entstanden, erklären die beiden, und am Ende konnte man gemeinsam ein eigenes Lagerlied singen. Noch immer haben sie Kontakte zu arabischen Jugendleitern, berichten sie, und bei einem Teil der Kinder sei das genauso. Vor dem Sommerlager habe er Angst gehabt, jüdische Kinder zu treffen, erinnert sich ein arabischer Junge. Das sei nun vollkommen anders. Auch die ursprüngliche Skepsis mancher Eltern sei inzwischen gewichen.

 

Samia, die das „community program“ des „Leo-Baeck“ leitet, zu dem auch das „summer-camp“ gehört, zeigt auf eine Sammlung bunter Fließen an einer Wand: verschiedene Friedenszeichen, eine gelbe Ente. Diese Fließen hatte eine Künstlerin zusammen mit den Kindern während des letzten Lagers gestaltet. Und sie sei selbst überrascht gewesen, mit welchem Eifer die Kinder die Mosaiken legten und mit welcher Ernsthaftigkeit sie sich dem Thema „Frieden“ widmeten. „Viele Erwachsene meiner Generation sind skeptisch. Sie glauben nicht, dass ein friedliches Zusammenleben in diesem Land gelingen könnte“, beklagt Samia, die selbst Araberin ist. Unter den Arabern gäbe es viele Fanatiker, aber das Wichtigste sei eine Erziehung zu einer friedlichen Koexistenz der verschiedenen Gruppen. Uund Samia ist zuversichtlich: „Diese Generation, die wir jetzt im Sommerlager erleben, kann das schaffen.“

Ganz offensichtlich ist die israelische Gesellschaft dabei auf eine bunte Zivilgesellschaft angewiesen und auf die vielen Freiwillige, die sich für ihr Land einsetzen.

Im Jahr 2008 konnten wir aus einigen der interessantesten Berichte unserer Informationsreisen ein Sonderheft des PNJ-Magazins Connecting Youth Media zusammenstellen. .

 

Im November 2008 besuchte eine PNJ-Reisegruppe Haifa, Tel Aviv und Jerusalem und informierte sich über die Möglichkeiten junger Israelis, am politischen und sozialen System des Landes teilzuhaben. Stichwort "Partizipation". Hier einige Berichte, die nach dem Programm entstanden.

 

Welle für Israel
von Franziska Nössig

 

Die Yehuda-Hayamit-Straße in Jaffa ist nicht der Ort, an dem man einen Radiosender vermuten würde – schon gar nicht den beliebtesten Musiksender Israels. Ein gestrecktes, gelblich-graues Gebäude dominiert ein gutes Stück der Straße in Tel Avivs Süden und bröckelt vor sich hin. Die vielen Fenster im Erdgeschoss und im zweiten Stock sind zerschlagen, der Putz ist an mehreren Stellen abgeplatzt und die altmodischen Fensterläden hängen müde in ihren Angeln. Ein ehemaliges Bürohaus oder vielleicht eine Fabrik. Von außen erinnert jedenfalls nichts mehr an die ursprüngliche Bestimmung der trostlosen Betonwände, nur ein paar Graffiti-Schnörkel sind an ihnen haften geblieben.

 

Der israelische Armeesender Galei Tzahal hat seinen Sitz im Haus auf der Straßenseite gegenüber. Im Vergleich zu der verlassenen Fabrik und dem Wohnhaus nebenan ist das Sendegebäude 50er-Jahre-Futurismus pur. Lange weiße Planken verleihen der Fassade einen gewissen Wellblech-Charme und bedecken die gesamte Fensterfront. Dass sich dahinter Studios, Archive und Technikräume befinden, das lässt das verhältnismäßig kleine Senderlogo über dem Eingang nur erahnen.

 

Die Welle der israelischen Armee, so könnte man Galei Tzahal übersetzen, feierte vor wenigen Monaten ihren 58. Geburtstag. Den Startschuss für einen von der Armee finanzierten Radiosender hatte Premier David Ben Gurion im September 1950 gegeben. Als das Verteidigungsministerium in den 80er und 90er Jahren versuchte, den Sendebetrieb aus Kostengründen einzustellen oder zumindest dem Bildungsministerium zu übertragen, hagelte es gewaltige Hörerproteste. Denn für Soldaten und deren Eltern war der Radiosender eine Möglichkeit, in Kontakt zu bleiben – und ist es nach wie vor. Außer mit Armeenachrichten und -reportagen ist Galei Tzahal mit Dokumentationen, Musikshows und Unterhaltungsprogrammen an sieben Tagen der Woche auf Sendung. Sprache für alle Formate ist Hebräisch. Obwohl das Militär nach wie vor als Hauptgeldgeber hinter der Radiostation steht, gilt sie als unabhängig. Die Hörer vertrauen den Moderatoren, die kritisch über die Armee berichten und auch mal unbequeme Fragen stellen.

 

Statt also Galei Tzahal zu schließen, gründete das Verteidigungsministerium 1993 zusätzlich noch den Ableger Galgalatz. Die Mischung aus Verkehrsfunk, Popmusik und Nachrichten entwickelte sich unter Soldaten und Zivilisten schnell zum absoluten Publikumsrenner. Insgesamt 30 Prozent der israelischen Bevölkerung hören den Sender heute. Hauptgrund dafür ist der Mix an Musikstilen. Je nach Programm schmettern Rock- und Popgrößen ihre neuesten Singles, kann man traditionelle israelische Klänge oder bisher kaum bekannte Musiker hören. Die Konkurrenz hat der Sender inzwischen weit hinter sich gelassen: Wer wissen will, welches Lied in Israel Hit oder Flop wird, hört Galgalatz.

 

Die Unmengen an Musik für den Sender kommen aus dem Erdgeschoss in der Hayamit-Straße. Das Archiv liegt gleich hinter der Eingangstür. Unter dem blauen Logo zieht man den Kopf ein Stück ein und betritt einen hellgrauen, fensterlosen Raum. In langen Aktenschränken, die bis unter die Decke reichen, sind die CDs eingeordnet. „Das besondere ist, dass wir außerdem noch ein Schallplattenarchiv haben“, sagt Inbal, eine junge Mitarbeiterin, nicht ohne Stolz und öffnet eine Tür. In dem muffigen Zimmer stehen, in Holzregalen und auf Vinyl eng zusammengepresst, Roberta Flack und John Lennon nebeneinander.

 

 Inbal kennt sich gut aus im Archiv. Die 28-jährige  arbeitet bei Galgalatz als Moderatorin und Reporterin.  Sie trägt zivil, im Gegensatz zu den meisten anderen  Frauen und Männern, die sie im Haus begrüßen und die  in olivgrünen Uniformen stecken. Der Radiosender ist  Teil der Armee und wer hier seinen Wehrdienst  ableistet, muss wie in allen Einheiten Uniform tragen.  „Wir arbeiten im Schichtdienst, also haben auch wir die  typischen Soldatenpflichten, wie Treppen wischen, Training an der Waffe und zum Appell erscheinen“, erklärt Inbal, während sie die Stufen zu den Studios im zweiten Stock hinaufsteigt. Sie selbst hat ihren Militärdienst bei Galei Tzahal absolviert.

Statt der für Frauen üblichen zwei Armeejahre müssen sich die Rekrutinnen im Sender 12 Monate länger verpflichten. Abschrecken lassen sie sich davon ebenso wenig wie von den harten Aufnahmebedingungen: Etwa 1400 Frauen und Männer bewerben sich jedes Jahr um die 30 freien Wehrdienstplätze im Sender. Wer in sehr guter physischer Verfassung ist und die Prüfungen besteht, dient nicht nur fernab von den Kollegen in den Krisengebieten. Innerhalb von drei Jahren erhalten die jungen Radio-Soldaten außerdem eine fundierte und im ganzen Land anerkannte journalistische Ausbildung. Sie schaffen Themenvorschläge und Musikideen heran, berichten als Reporter von Truppeneinsätzen und lernen am Mikrofon und in Seminaren, wie man Nachrichten formuliert und spricht. Galei Tzahal lebt von seinen jungen Machern und gilt daher unter Journalisten als Nachwuchsschmiede. Viele bekannte Reporter und Sprecher, die heute beim öffentlich-rechtlichen und deutlich älteren Sender Kol Israel arbeiten, haben als Soldaten in Jaffa angefangen.

 

Thematisch spielt die Armee im Programm von Galgalatz allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Eine Stunde am Tag, sagt Inbal, ist dafür reserviert. „Wir senden dann Nachrichten über das Militär und was Soldaten sonst noch interessiert.“ Im Mittelpunkt aber stehen die Musikformate. Sehr beliebt ist eine Sendung am Donnerstagnachmittag, zu der Musiker eingeladen werden und live spielen. Wir sind mit Inbal zur richtigen Zeit – einem Donnerstag – im richtigen Studio und lernen so den Sänger Ivri Lider kennen: Er ist bei Fans aller Altersklassen heiß begehrt, nicht nur in Israel.

 

Während Inbal nun noch ein weiteres Stockwerk erklimmt, beschreibt sie das Ausbildungsmodell im Sender noch etwas genauer. „Jeder Soldat erhält eine Grundausbildung in allen Bereichen. Danach können sie entscheiden, ob sie am liebsten moderieren, in der Musikredaktion oder in der Technik arbeiten möchten.“ Für das Abmischen und Abstimmen der Sendetechnik hat sich eine junge Frau entschieden, die gerade in einem der kleineren Studios ihre Schicht absitzt. Viel passiert

nicht hinter der Glaswand, dort hat der Moderator

gerade Sendepause. Und weil im Laufe der Sendung

für die Soldatin ohnehin nur wenig zu tun ist, hat sie

sich für eine andere Aufgabe entschieden: Sie strickt. Während sie mit den Stricknadeln klappert und das Wollknäuel auf ihrem Schoß nachzieht, schaut sie ab und zu in Richtung Computer und Glaswand. Hobby am Arbeitsplatz erregt Unmut? Keineswegs. „Als Techniker hat man eben nicht den spannendsten Job“, gibt Inbal zu verstehen und tauscht mit der Soldatin noch ein paar Neuigkeiten aus, bevor sie sich selbst wieder an die Arbeit macht. Aus Mitschnitten, die sie am Morgen gesammelt hat, soll noch ein Beitrag werden.

Zurück im Erdgeschoss begegnen wir einer anderen Soldatin. Sie schiebt gerade Wachdienst, auch eine der Pflichtaufgaben. Auf ihrem Computerbildschirm flimmern die Aufnahmen von zwei Kameras. Statt Stricknadeln hält sie ein Maschinengewehr, routiniert hat sie es auf ihren Oberschenkeln abgelegt. Es symbolisiert unmissverständlich: Galei Tzahal ist der Radiosender der Armee.

„Ich möchte später in der Wüste leben“
von Matthias Kirchner

Seger ist 17 Jahre alt und bald müssen er und seine Freunde den dreijährigen Wehrdienst in der israelischen Armee ableisten. Diese Tatsache räumt ihm und den anderen Jugendlichen vom Kibbuz „Ramat Jochanan“ ein ganz besonderes Privileg ein. Ein Jahr vor dem Einsatz in der Armee können sie aus den großen Gemeinschaftssälen ausziehen und bekommen ein eigenes Zimmer.

In den ersten Kibbuzim, die um 1910 im heiligen Land gegründet wurden und mit denen jüdische Pioniere die zionistische Idee von einem Judenstaat in Palästina verwirklichten, war die patriarchalische Familienordnung aufgelöst. Schon als Babys kamen die Kinder in die Obhut von Erziehern und wurden in einer Art Kindergarten von diesen, mit anderen Gleichaltrigen, großgezogen. Jegliche Verpflichtung der Eltern für ihre Kinder wurde somit unterbunden, denn schließlich hat jeder, also auch junge Eltern, eigene Aufgaben um das gemeinschaftliche Leben im Kibbuz zu ermöglichen.

 „Ich finde es nicht weiter schlimm, dass ich  ohne die Erziehung meiner Eltern  aufgewachsen bin. Denn die Erzieher, die  dafür verantwortlich waren, sind dafür  ausgebildet und wissen was sie tun. Ich  kenne es eben nicht anders und das Leben  hier ist für mich sehr angenehm. Schon  immer habe ich sehr viele Freunde mit  denen ich alles zusammen machen kann,  außerdem kann ich meine Eltern  regelmäßig besuchen.“ Von klein auf  werden die Kinder an die gemeinsame  Arbeit gewöhnt und ihnen wird vermittelt,  dass jeder entsprechend seinen Fähigkeiten einen Beitrag zu leisten hat und Verantwortung übernehmen muss. Trotz dieser Form der Erziehung, in denen die Kinder sehr frühzeitig lernen was es heißt Verpflichtungen zu haben und so auch selbstständig werden, schleicht sich aber bei Ausflügen in die Stadt ein Gefühl des Unwohlseins. „Es ist mir einfach zu voll und zu schnelllebig“, erzählt Seger, sicherlich auch ein Grund dafür, dass er nach der Zeit in der Armee zurück in den Kibbuz kommt in dem er aufgewachsen ist. „Ich lebe jetzt in der dritten Generation unserer Familie hier und möchte auch nichts daran ändern.“

Auch Guy möchte weiterhin in einem Kibbuz leben, jedoch nicht in dem gleichen in dem er aufgewachsen ist. „Ich möchte später in der Wüste leben. Im Negev gibt es einen Kibbuz der noch ziemlich jung und sehr sozialistisch geprägt ist, ich kann mir sehr gut vorstellen dort später zu wohnen. Die Leute legen dort keinen Wert auf materielle Dinge, vielmehr geht es um das Leben in der Gemeinschaft.“ Bereits das jetzige Leben im Kibbuz gefällt Guy sehr, vor allem der Zusammenhalt der Menschen, der sich immer wieder täglich aufs Neue zeigt. „Wir haben oft Feste bei denen wir alle zusammen feiern. Aber auch beim Mittagessen oder nach der Schule ist man ist nie allein.“

Das sozialistische System, nach dem ein Kibbuz funktioniert, regelt auch, dass dessen gesamtes Eigentum jedem zur Verfügung steht. Das schließt auch den großen Fuhrpark ein, der mit einer nicht unwesentlichen Zahl an Fahrzeugen glänzt. Welcher Jugendliche kann sich schon aussuchen mit welchem Fahrzeug er denn heute fährt. Auch die Regelungen zur Verteilung der Arbeitsaufgaben müssen, gerade für junge Menschen, sehr angenehm sein. Die Wäsche wird von den Leuten die für diese Arbeit verantwortlich sind gereinigt, gebügelt und in einem Fach zum Abholen bereitgelegt. Das gekochte Mittagessen muss nur auf den Teller getan und selber gegessen werden, für den Abwasch gibt es dann wieder Andere. Da kann man es durchaus verstehen wenn die hier aufwachsenden Jugendlichen an einem solchen geregelten und durchorganisierten Alltag Gefallen finden und denn Alleingang außerhalb der gewohnten Umgebung scheuen.

Auch für Yishai ist es selbstverständlich Aufgaben für die anderen Einwohner zu übernehmen. Da er noch zur Schule, in einem größeren benachbarten Kibbuz, geht kann er natürlich nicht so viele Aufgaben übernehmen wie andere Mitglieder. Aber dass er als Junge Arbeiten erledigt die sehr anstrengend sein können, wie zum Beispiel das Ausmisten der Pferdeställe, ist auch für ihn selbstverständlich, jedoch sieht er genau darin ein Problem. „Oft wird man in eine Schublade gesteckt wenn man neue Freunde kennenlernt die nicht in einem Kibbuz leben. Denn die Leute haben oft falsche Vorstellungen und halten an Stereotypen fest.“ Yishai will später einmal selber in der Stadt leben, „ich mag den Kibbuz sehr, er ist meine Heimat aber das Leben in der Stadt bietet mir viele verschiedene Perspektiven.“

 

Musik stiftet Frieden
von Steffen Wurzel

 

SWR-Journalist Steffen Wurzel besuchte in Haifa eine Musikschule, in der arabische und israelische Jugendliche gemeinsam lernen, Freundschaften schließen und damit einen ganz eigenen Weg einer sehr persönlichen Friedensinitiative einschlagen. Die ARD-Mediathekbietet die Mögilchkeit, diesen Bericht anzuhören.

Armut in Haifa - jetzt kommen die Nightbirds
von Christiane Roskopf

Auf dem ZEIT-Zünder Blog schreibt Christine Roskopf: Hadar, das kulturelle Zentrum der israelischen Stadt Haifa, ist heute runter gerockt und fest in der Hand russischer Einwanderer. Jetzt sollen Studenten das Leben im Viertel aufwerten. Bericht von einem nächtlichen Streifzug.

Haifa in Bild + Ton
von Stephanie Lachnit

Die Kollegin Stephanie Lachnit konnte auf der Website vom Funkhaus Europa eine vertonte Fotogalerie über Haifa einstellen.

 

 

Berichte vom Programm "Partizipation", Bonn und Köln, Mai 2008

Studenten führen sich selbst – aber die Welt? 
von Asaf Charnilas

Während eines Besuch in der Uni Bonn, lernte ich kürzlich eine Institution kennen, von der ich weiß, dass es sie überall auf der Welt gibt: eine Studentenvereinigung, die sich um die alltäglichen Belange der Studenten kümmert. In Bonn ist Christoph Paesen der Vorsitzende des AStA. Er erklärte uns, wie beinahe jeder der 26.000 Studenten in Bonn von den vielen Aktivitäten und Angeboten profitieren kann, die der Verein anbietet.

Das beginnt mit ganz alltäglichen Dingen wie günstiger Verkauf von Büromaterial und geht weiter mit der Hilfe bei der Antragstellung von Zuschüssen (BAFÖG), Wohnungssuche, Rechtsberatung und sogar bei der Organisation von politischen und sozialen Demonstrationen. Kurz: Der AStA ist ein fester Bestandteil des Uni-Alltags. Kaum vorstellbar, dass ein Student seinen Abschluss schafft, ohne nicht irgendwie in Kontakt mit dem AStA zu kommen.

Ein Verein wie der AStA ist ein Zwerg verglichen mit den Institutionen der regionalen und nationalen Politik. In meinem Heimatland Israel werden viele Studenten, die während ihres Studiums in einem Gremium wie dem AStA mitarbeiten, später Führungspersönlichkeiten in der Politik. Es gibt etliche Beispiele von Leuten, die Studentenorganistionen geführt haben und später Minister werden.

 Natürlich ist es schwer, sich Studentenvereinigung wie den  AStA zu begutachten und sich nicht zu fragen: Was machen  diese Leute jenseits des Campus? Historisch und traditionell  sind Studenten die am meisten politisch engagierten  Mitglieder einer Gesellschaft. Doch als ich Chris Paesen  fragte, wie die Studenten gegen die Einführung von  Studiengebühren kämpfen, war seine Antwort nicht so  überschwänglich, wie ich mir das vorgestellt hatte. „Wir haben ein wenig dagegen gekämpft“, sagte er, „aber um die Wahrheit zu sagen: Es ist sehr schwer, die Studenten auf die Straße zu bekommen.“

In Israel sind die Studiengebühren deutlich höher und viel weiter verbreitet. Aber Studenten gehen auf die Straßen und demonstrieren, wenn ein Minister oder ein anderer Verantwortlicher Hand an die Studiengebühren legt. Aber natürlich hilft das oft nichts, und die Demonstrationen sind vergeblich. In Israel ist es ein Traum, Studenten auf die Straßen zu locken, um gegen Dinge zu demonstrieren, die sie – oder um das Kind beim Namen zu nennen: ihren Geldbeutel – zu demonstrieren. Und so ist das in Deutschland wohl auch. Wo sind die Studenten, die Demonstrationen gegen Kriege organisieren? Oder gegen ungerechte Gesetze? Oder gegen Diskriminierung? Wo sind die Stimmen der Studenten zu sozialen Fragen der Zeit? Wo sind die Studenten geblieben, die Revolutionen angeführt haben?

Es scheint so zu sein: In einer Zeit, in der eine höhere Ausbildung überall auf der Welt ein Mittel ist, um sich ein besseres Leben zu erkaufen, aber weniger ein Weg ist, sich die eigenen Gedanken und Meinungen zu erweitern, in einer Zeit, in der pivate Unis wachsen und die öffentlichen schrumpfen, in dieser Zeit verlieren wir den Einfluß der einstmals sozial aktivsten und lautstärksten Teil der Gesellschaft, nämlich die Studenten.

Während Studentenorganisationen wie der AStA in Bonn sich um so viele Belange des studentischen Lebens kümmern, schaffen sie es nicht, die Studenten dazu zu bringen, eine eigene laute Stimme der Opposition zu bilden - und die Straße zu erobern, damit diese Stimme Gehör findet.


Think Different
von Chen Serfaty

Auch dieses Jahr kam eine Delegation junger israelischer Journalisten zu einer Bildungsreise nach Deutschland, um sich zu politischen und gesellschaftlichen Themen zu informieren. Die Gruppe reiste unter der Schirmherrschaft von „Beit Rutenberg“ aus Haifa an, auch Journalisten von Galey Zahal waren dabei. Die Gruppe besuchte Bonn und Köln, um Medien- und Bildungsarbeit in Deutschland kennenzulernen. Der Themenschwerpunkt lag diesmal auf der Partizipation der Jugend in der Politik und in der Gesellschaft.

Da die israelische Gruppe aus besonders jungen Journalisten bestand, strahlte sie eine frische Neugierde und Offenheit aus, was im Vergleich zu den israelischen Gruppen der letzten Jahre besonders auffiel. Dies bemerkte auch Herr Stefan Weber, Leiter von „Anyway“, des ersten Homo-Lesbischen-Zentrums in Europa. Unsere Gruppe besuchte das Zentrum in Köln und interviewte ihn.

Wie Herr Weber uns erzählte, wurden bis jetzt sechs ähnliche Zentren in ganz Europa eröffnet, was im Vergleich zu Israel eine relativ niedrige Zahl ist. Der Anfang war sehr schwer. Die großen Schwierigkeiten fingen im geplanten Eröffnungsjahr 1994 an. Die Mehrheit der Bevölkerung war gegen der Eröffnung eines Zentrums für lesbische, schwule und bisexuelle Jugendliche. So dauerte es letztendlich vier Jahre, bis das Zentrum eröffnet werden konnte. Dazu haben auch die Medien viel beigetragen, die das in der Bevölkerung heftig umstrittene Thema direkt zur Sprache gebracht haben. Es ist besonders interessant zu betonen, dass Anyway von der Stadt Köln finanziert wird.

Das Zentrum kann von Jungen und Mädchen schon ab dem 15. Lebensjahr besucht werden. Diese Jugendlichen entscheiden sich, das Zentrum zu besuchen, wenn sie ihre sexuelle Neigung erkannt haben. Das Zentrum bietet Sozialberatung für die Jugendlichen, die mehrere Stufen ihrer Identität durchleben. Dazu gehören Verdrängung der sexuellen Neigungen und später die Akzeptanz durch das Umfeld. Die Mitarbeiter und Besucher des Jugendzentrums zeigen ihnen Wege und Hilfsmittel auf, die man braucht, um trotz aller privater und gesellschaftlicher Schwierigkeiten ein geregeltes Leben führen zu können.

 Am Anfang hat der Initiator des Projekts Anyway,  Thomas Hess, einen Treffpunkt für Jugendliche  aufgebaut, finanziert vor allem aus privaten Mitteln. Aus  diesem Treffpunkt entstand dann ein Zentrum, das  heute auch das veränderte Denken in der Gesellschaft  symbolisiert.
 
 Herr Weber erwähnte auch den israelischen Film „Yossi  und Jager“, als Beispiel für das Verhalten gegenüber  Homosexuellen in der Armee. Dieser Film hatte eine positive Resonanz und wurde auch zum  Thema in der Deutschen Armee.


Ein weiteres interessantes Thema bei Anyway ist ein Projekt für die Eltern. Es findet in einer anderen Umgebung statt, und unterstützt die Eltern beim Coming-Out der Kinder.

Die Homo-Lesbische Gemeinde ist immer noch auf solche Zentren angewiesen, da in der Gesellschaft der Prozess der Anerkennung noch nicht als normal akzeptiert wird. Auch in Israel gibt es viele ähnliche Organisationen wie „Wie Du und Ich“ oder „Das offene Haus“, und viele mehr. Diese Organisationen sind Anlaufstellen für die schwule, lesbische und bisexuelle Jugendliche. Zudem gibt es diverse Internetportale, die Information und Unterstützung beim Coming-Out anbieten.

Das Bedürfnis der homosexuellen Gemeinde nach Anerkennung hat auch in Israel zu einer Loveparade in Jerusalem geführt. In dieser Stadt ist die Mehrheit der Bevölkerung konservativ religiös, und aus diesem Grund auch negativ der Homosexualität gegenüber eingestellt. Der Protest der Gemeinde ist verbunden mit der schwierigen Akzeptanz, und eine gesellschaftliche Veränderung braucht ihre Zeit. Aber auch in diesem Jahr gab es wieder eine gay-pride-parade. Es fanden bunte Paraden in den großen israelischen Städten statt - nicht nur aber vor allem in Tel-Aviv, die als eine moderne, gewagte und offene Stadt gilt.


Es stellt sich die Frage, ob in Deutschland und sogar in ganz Europa, die Homosexuellen noch um Anerkennung und die Akzeptanz in der Gesellschaft käm-pfen? Ob die Anerkennung dieser Gruppe als „normal“ zur Aufhebung der Paraden führen wird, die als demonstrativer Protest und als Ruf nach Anerkennung dienen? Müssen wir darauf warten, dass Anyway und andere solche Zentren weltweit geschlossen werden, nicht aus Mangel an „Kunden“, sondern aus einem ganz einfachen Grund: dass Homosexualität in den Augen der ganzen Welt als „normale“ sexuelle Neigung anerkannt wird. So dass jeder Mensch seine Menschenrechte und seine Freiheit als authentisch empfinden kann und Homosexuelle sich nicht gleich nach dem Outen verstecken müssen.

Die Aufgabe der Medien ist es, den Minderheiten und Benachteiligten eine Bühne zu geben, um eine gesellschaftliche Veränderung zu bewirken. Es kann aber auch sein, dass gerade die Medien diese Minderheiten ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt dadurch zu der Benachteiligung der Betroffenen beigetragen haben. Auf diese Frage gibt es keine Antwort, und es ist auch nicht unser Ziel, sie zu suchen.

Zum Abschluss unseres Besuchs bei Anyway und der interessanten Gespräche mit deren Vertreter, bleibt nur zu sagen, dass es für uns als Journalisten ein sehr wichtiges Treffen war. Dieses Treffen hat unsere Aufgabe hervorgehoben, als bewusste, interessierte und engagierte Journalisten, als Wortführer der Gesellschaft, mit sozialer Kompetenz, Tag und Nacht zu arbeiten, um Benachteiligte am Rande der Gesellschaft zu unterstützen und zu helfen. Und wenn sich so eine Möglichkeit zur Hilfe ergibt, dann muss ich als Journalistin darüber schreiben, um solche und ähnliche Gruppen zu unterstützen. Mit der Vorstellung, dass wir alle Menschen sind, deren Bestreben es ist, eine gleichberechtigte und entgegenkommende Welt zu bekommen und zu gestalten.

Übersetzungen: Julia Kritschmar

 

Berichte von der Informationsreise "Jugendkulturen" nach Israel, November 2007

„Nie wieder darf Masada fallen!“
von Lutz Bernhardt

 

Die Wache steht nicht stramm. Der Eingang zu Israels beliebtestem Jugendsender in Jaffa wird von einem jungen Mann kontrolliert. Roter Flaumbart, die Hose hängt tief im Schritt, das alte AK 47-Sturmgewehr liegt auf seinem Stuhl. Wer hier ein und ausgeht, trägt olivgrüne Uniform: Radio Galei Zahal ist ein Armeesender.

 

In dem verwinkelten Gebäude sind über mehrere Etagen Redaktionen, Ton- und CD-Archive und Studios untergebracht. Es herrscht Platzmangel. Auf den engen Gängen und Treppen schieben sich die Soldaten aneinander vorbei, die Schreibtische sind überbelegt und überall Manuskripte, Ordner, Kaffeetassen, redaktionelle Betriebsamkeit. Und gute Laune. Wer hier arbeiten darf, ist jung und muss nicht kämpfen.

 

Das liegt an der „Profil 64“-Grenze. Mit 18 Jahren bekommen die meisten israelischen Männer und Frauen eine Vorladung von den Streitkräften. Bei der Musterung werden die geistige und körperliche Tauglichkeit in „Profil“-Klassen eingeteilt. Wessen medizinisches Profil über 64 liegt, wird combat soldier. Alle anderen werden nach der Grundausbildung zu unterstützenden Arbeiten herangezogen und müssen in der überbordenden Verwaltung Akten sortieren oder den Vorgesetzen Kaffee kochen. Oder sie schaffenen es zum Radio. Bei Galei Zahal landen jährlich aber nur ein Handvoll Rekruten. Der Sender in Jaffa gilt als das große Los. Zwischen Charts und Promiklatsch, Nachrichten und Kultursendungen herrscht kein Befehlston, die Medienarbeit fasziniert die jungen Leute und einige bekannte israelische Journalisten haben hier ihre Karriere begonnen.

 

Die 18-jährige Shachar sieht ihren Reporterjob bei der Armee auch als Trittbrett. Aber das sei ihr eigentlich nicht so wichtig, sagt sie und zupft ihr Uniformhemd zurecht. „Ich will meinem Land etwas zurückgeben. Deswegen bin ich hier.“ Nach dem Abitur zum Militär, so ist das eben. Die Station sendet 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche; es gibt genug zu tun. Die Rekruten wechseln im Schichtdienst. Putzen und Wache halten gehören auch zu ihren Aufgaben. Die meisten jungen Frauen in ihrem Alter leben ein anderes Leben als sie – außerhalb Israels. „Mir wird gesagt, dass ich meine Haare nicht offen tragen darf, wann ich aufzustehen habe und wie ich mich kleide. Natürlich macht das keinen Spaß.“ Weil der Sold ausgesprochen mickrig ist, kauft sie ihr Essen und zahlt ihre Miete in Tel Aviv mit Unterstützung der Eltern. Sie sind stolz, wenn sie Shachar im Radio hören.

 

Shachar leistet wie alle Frauen 21 Monate ab. Sie ist nicht sehr groß und ein bisschen untersetzt. In ihrem Dienstanzug sieht sie eher wie eine Pfadfinderin aus und nicht wie ein Mitglied der für lange Zeit als unschlagbar gerühmten israelischen Armee. An ihrer Entschlossenheit, notfalls auch zu kämpfen, lässt sie aber keinen Zweifel: „Israel ist für uns Juden der sichere Hafen. Ich liebe mein Land und es ist eine Ehre, ihm zu dienen.“ Sie sagt, es sei schwierig für sie gewesen, als ihre kämpfenden Freunde in den Libanon mussten und sie hier blieb. Deshalb wollte sie ein besonders gutes Programm machen. „Die Soldaten hören uns jeden Tag. Wir wollen, dass sie Spaß haben.“

 

Beinahe alle jüdischen Familien haben zwei Dinge gemeinsam. Erstens ihre individuelle Holocaustvergangenheit und zweitens die Kriegserfahrung im eigenen Land. Seit 1948 sah sich jede Generation von Feinden umgeben, selbst die Allerjüngsten mussten im zweiten Libanonkrieg in den Bunkern vor Raketen Schutz suchen – und müssen es in Sderot nahe dem Gaza-Streifen jeden Tag. Viele Israelis steigen nur mit Angst in den Bus und behalten in Gebäuden immer den Notausgang im Blick. Die Bedrohung ist allgegenwärtig. Ebenso der Wille zur Selbstbehauptung. Das Land zu verteidigen gilt jedem Bürger seit der Staatsgründung als moralische Pflicht, egal ob mit der Waffe oder mit dem Mikrofon in der Hand. Bei Galei Zahal arbeitet sogar eine blinde Technikerin; sie wollte zur Truppe, egal in welcher Funktion.

 

Soldat zu werden, hat in der Gesellschaft den Nimbus des Heroischen. Heute noch werden die Rekruten martialisch auf den Kampf eingeschworen und legen auf einem Gipfelplateau über dem Toten Meer den Eid ab: „Nie wieder darf Masada fallen!“ In Erinnerung an die 960 Juden, die 73 n. Chr. in der Festung Masada Selbstmord begingen, um nicht den Römern in die Hände zu fallen. Wer diese Entschlossenheit nicht teilen will, wer heute Befehle oder den Wehrdienst in Israel verweigert, hat ein Problem.

 

Mor Elnekave zum Beispiel. Sein medizinisches Profil lag bei 97 – tauglich für härteste Einsätze. Er musste schwören und kämpfen. Und landete im Gefängnis, weil er sich an seinen Schwur nicht mehr halten wollte. Weil er Hebron satt hatte. Weil er unglücklich war.

Der 25-Jährige ist im zweiten Jahr des Fotografie-Studiengangs am Wizo College für Design und Architektur in Haifa. Aus dem vierten Stock hat man einen freien Blick über die Hafenstadt, das mächtige Getreidesilo, den Berg Karmel und das Rathaus. Die neuartigen Katjuscha-Raketen der Hisbollah haben es 2006 bis ins Zentrum geschafft, der Radiosender Kol Israel konnte praktisch vom Fenster der Redaktionsräume aus über die Einschläge in der Umgebung berichten. Mor weiß noch nicht genau, was er später als Fotograf machen will – Journalist will er nicht werden und erst recht kein Kriegsberichterstatter.

 

Hebron, hier ist Abraham begraben. Der Ort an dem David zum König von Juda gesalbt wurde, eine der ältesten Städte der Welt, ist für die jungen Soldaten das Grauen. Etwa 30 Kilometer südlich von Jerusalem liegt Hebron im Westjordanland. Es gibt 17 Zonen in der Stadt und der näheren Umgebung, in denen sich nach 1967 jüdische Siedler niedergelassen haben. Die Fanatiker zog es direkt in die Altstadt. Hier leben 200 Juden und auf jeden einzelnen kommen vier Soldaten zur Bewachung. Die Posten verschanzen sich auf Dächern und in Checkpoints hinter Sandsäcken und Panzerdraht.

 

Mors Einheit musste 500 Siedler außerhalb der Stadt bewachen, innerhalb von sieben Monaten wurde er regelmäßig für zwei bis drei Wochen dorthin kommandiert. „Ich fühlte mich nicht wie ein Teil des Ganzen“, erzählt er mit ruhiger, sonorer Stimme. Weil er ein eher dunkler Typ ist, wird er grundsätzlich von Polizisten nach seinem Pass gefragt. Während einer Übung widersetze er sich dem neuen Marschbefehl. „Wenn du das Gewehr in die Hand nimmst, musst du dir über alles im Klaren sein. Aber ich war verwirrt. Mir kam mein Dienst dort so wertlos vor.“ Er wurde degradiert und ins Militärgefängnis „Nr. 6“ gebracht.

 

Schon kurz nach seinem Eintritt in die Armee wollte Mor nicht mehr und grübelte Tag und Nacht, ob er aussteigen sollte. Die Bestrafung durch die Streitkräfte schreckte ihn nicht ab. Wäre es hart auf hart gekommen, hätte er die restliche Zeit seines Dienstes – Männer müssen drei Jahre zum Militär –hinter Gittern verbracht. Es waren die gesellschaftlichen Sanktionen, vor denen er größere Angst hatte: „Absolut jeder fragt dich bei einem Einstellungsgespräch nach Einheit und Einsatzort. Du bekommst keinen guten Job, wenn du dich ausgeklinkt hast.“ Tatsächlich war im September in Geschäftskreisen eine Petition im Umlauf, in der Manager und Personalverantwortliche aufgerufen wurden, keine Befehls- oder Wehrdienstverweigerer einzustellen. Außerdem hätte Mor sich das College nicht leisten können – das Militär zahlt nach dem Dienst das Schulgeld. Deshalb hat er sich gesagt, sei es drum, ich gebe mein Bestes und halte durch.

 

Eine gesellschaftliche Ächtung als Paria, als Vaterlandsverräter, ist zwar nach Meinung von Soziologen der Universität Haifa Geschichte, fragt man aber Mor und andere junge Israelis, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Geschwister reden nicht mehr miteinander, Schulfreunde wechseln die Straßenseite, Eltern verstehen die Welt nicht mehr, schließlich muss doch jeder seinen Teil beitragen.

 

Der gesellschaftliche und politische Druck ist enorm. Öffentliche Stellen sind für die Befehls- und Kriegsdienstverweigerer in der Regel tabu. Die in Deutschland erscheinende Jüdische Zeitung berichtet im Herbst 2007 von einer koordinierten Aktion gegen Prominente, vermutlich gesteuert aus dem Büro von Premierminister Olmert persönlich. Es soll eine Schwarze Liste mit Namen von Künstlern an Behörden und Stadtverwaltungen gegangen sein. Wer darauf verzeichnet ist, der soll offiziellen Feiern nicht mehr auftreten dürfen.

 

Durch diesen Propaganda-Coup sollen falsche Vorbilder aus dem Verkehr gezogen werden. Die meisten Eltern sind sogar dankbar. Wie die Öffentlichkeit mit verweigernden Promis umspringt, muss das Top-Model Bar Rafaeli erfahren, nachdem sie von dem Massenblatt „Yediot Ahronot“ mit den Worten zitiert wird: „Warum sollte es gut sein, für sein Land zu sterben. Ist es nicht besser in New York zu leben?“ Wütende Mütter bedauern, ihren Töchtern den gleichen Vornamen gegeben zu haben und beschimpfen die 22-Jährige als Schande für die Nation. „Wir brauchen keine Leute wie Dich!“, schreiben sie im Online-Forum der Tageszeitung.

 

Der Vater von Tsoof Yovel ist auch wütend. Aber nicht auf den zickigen Superstar, sondern auf seine Tochter. Denn Tsoof will auch nicht für Israel sterben, hat bei der Einberufung auf stur gestellt, weil sie nicht Teil einer Besatzungsmacht sein wollte. Das ist jetzt einige Jahre her. Aber zwischen Tsoof und ihren Eltern ist etwas kaputt gegangen. „Was tust Du für die Gemeinschaft?“, fragt ihr Vater. Immer wieder. Tsoof hasst das.

 

Das Barfußgehen hat sie geliebt. Durch die Felder zu streifen, Blumen beim Namen zu nennen. Tsoof ist im Kibbuz Ramat Yohanan aufgewachsen, im Tal Zebulon nahe der Stadt Kiryat Ata im Norden von Israel. Dort konnte sie als kleines Mädchen mit einer Freundin stundenlang durch die Natur spazieren, ohne zu bemerken, dass das ganze Dorf auf der Suche nach ihnen war. Sie fühlten sich frei in diesem Moment. Tsoof ist jetzt 25 Jahre alt und in ihren langen blonden Haaren sind graue Strähnen. Es war nicht alles schön im Kibbuz.

 

„Ich war drei Jahre alt. Ich weiß nicht, was ich getan habe. Aber es passte nicht ins Konzept.“ Irgendetwas in ihrem Verhalten, vielleicht eine trotzige Antwort, zog den Groll der Metaplot, der Erzieherinnen auf sie. Erziehung war Sache des Kindergartens. Alle Eltern gaben die Verantwortung an das Kollektiv weiter, damit die Kinder klassenlos und gleich aufwuchsen. „Als die anderen Kinder zum Essen gingen, wurde ich plötzlich auf der Toilette eingesperrt. Nicht einmal, sondern sehr, sehr oft. Und wenn wir freitags Plätzchen für den Sabbat gebacken haben, durften alle Kinder sie mitnehmen und den Eltern schenken. Ich musste sie abgeben.“ Vater und Mutter konnten ihr das auch nicht erklären. Tsoof begann, immer überall anzuecken.

Das Gefühl der ständigen Kontrolle durch die Chaverim, die Mitglieder, machte aus dem lebenslustigen Mädchen eine Einzelgängerin. Als Teenagerin habe sie nichts mehr gefürchtet, als die „Kibbuznews“, das Gerede hinter ihrem Rücken. Jeder im Dorf sei stets bestens über Fehltritte und unbotmäßiges Verhalten der anderen informiert gewesen. Tsoof spricht von einem Trauma und davon, dass sie nicht die einzige sei, die unter den ideologischen Hardlinern gelitten hat. Den Ton gaben mächtige Familien an, die die wichtigsten Funktionen besetzten. „Das waren die Einzigen, die im Speisesaal feste Sitzplätze hatten.“ In dieser Zeit wuchs bei Tsoof die tiefe Abneigung gegen das, was ihr Vater Gemeinschaft nennt.

 

Über die Hälfte der Gefangenen im Militärgefängnis „Nr. 6“ in Atlit soll wegen Befehlsverweigerung oder dem unerlaubten Entfernen von der Truppe einsitzen. Im Block A sitzen die Schwerverbrecher. Mor kam für 30 Tage in Block B, zusammen mit Gleichaltrigen, die im Dienst eingeschlafen sind oder ihre Waffe irgendwo verloren hatten. Die erste Nacht allerdings verbringen alle Neuankömmlinge in einer Gemeinschaftssektion. „Du schläfst neben den echt harten Jungs. Das ist eine Art Disziplinierungsmaßnahme.“

 

In diesen Knast kommen auch Wehrdienstverweigerer, wenn sie vor dem „Gewissenskomitee“ nicht bestehen, d.h. wenn sie nicht offiziell als Pazifisten anerkannt werden. Männer haben vor dem Komitee kaum eine Chance. Deswegen lassen sich viele 18-Jährige von einem Arzt Depressionen attestieren. Bei „Untauglichkeit aus psychischen Gründen“ – das entspricht dem medizinischen Profil 21 – ist man vom Dienst befreit. Allerdings lebt man fortan mit der Angst, im Beruf oder im Bekanntenkreis als Waschlappen stigmatisiert zu werden. Der hohen Zahl von „Profil 21“-Fällen will das Militär jetzt mit zusätzlichen eigenen Psycho-Tests begegnen. Außerdem werden mehr Psychiater eingestellt – auch um die Selbstmordrate in der Armee zu senken. Frauen werden häufiger als Pazifisten anerkannt als Männer.

Beim ersten Mal hatte Tsoof sich die Haare gefärbt und die Fingernägel rot lackiert. Sie verabscheute sich selbst für das Theater, sie spielte die Hippiebraut. „Es war lächerlich. Und sie haben mir natürlich nicht geglaubt.“ Eine Freundin von ihr und ein Bekannter, ein Rechtsanwalt, wurden als Zeugen vorgeladen. Dann kam ihre zweite Vorladung und sie ging fest davon aus, sofort ins Einberufungszentrum nach Tel Hashomer abtransportiert zu werden. „Sie wollten mich klein kriegen. Sie stellen absolut hirnrissige Fragen, wollten wissen, ob ich Hunde lieber möge als Menschen. Es war demütigend.“ Das Komitee drohte ihr mit Haft, beleidigte sie als Egoistin und versuchte an Tsoofs Gewissen zu appellieren. Schließlich sagte sie: „Egal, was sie fordern, ich werde es verweigern. Ich werde mich hier auf den Boden setzen. Ich werde diesen Bus nicht besteigen.“

 

Die Zahlen schwanken. Laut einem Artikel des österreichischen „Standart“ haben im Jahr 2007 26 Prozent aller wehrfähigen Männer und 43 Prozent der Frauen den Wehrdienst verweigert. Andere Quellen sprechen von 20 Prozent. Ähnliche Angaben über die männlichen Verweigerer macht auch die „Jüdische Zeitung“ für das Jahr 2006. Ein Großteil der jungen Israelis, vor allem orthodoxe Juden, nennen religiöse Gründe. Diejenigen, die aus Gewissensgründen verweigern, führen als Hauptargument die Besetzung der palästinensischen Gebiete an. Nach israelischer Rechtssprechung ist das aber im Gegensatz zu religiösen Motiven nicht hinreichend, viele dieser conscientious objectors werden für Wochen bis Monate inhaftiert und anschließend wieder vor das Gewissenskomitee zitiert. Amnesty international hebt im Jahresbericht 2007 den 19-jährigen Uri Natan hervor, der acht aufeinanderfolgende Freiheitsstrafen mit einer Gesamtlänge von fünf Monaten verbüßen musste.

 

In der israelischen Öffentlichkeit spielt vor allem die Verweigerung von Befehlen durch Reservisten eine Rolle. Im Januar 2002 verfasste der Hauptmann David Zonshein nach einem Einsatz im Gaza-Streifen den „Brief der Frontkämpfer“ und stieß eine Debatte über die Besatzungspolitik in den palästinensischen Gebieten an. Später gründete er mit anderen die Gruppe Seruv. Es folgten Initiativen anderer Soldaten. Während des zweiten Libanonkriegs 2006 erreichte die Refusnik-Bewegung ihren bisherigen Höhepunkt, als Hunderte Soldaten die Vorgehensweise der Befehlshaber gegen die Bevölkerung ablehnten. Unterstützt von den verschiedenen Gruppierungen, z.B. Courage to Refuse, Forum der Eltern von Verweigerern, New Profil, Seruv und Yesh Gvul, haben mehrere Tausend Israelis seit 10 Jahren ihren Einsatz außerhalb der Grenzen von 1967, sogenannte „Schwarze“ (illegale) Befehle oder den Wehrdienst insgesamt verweigert.

 

In der Paragrafensprache der Streitkräfte ist Tsoof heute Pazifistin. Sie hat Käsekuchen gebacken. Sie wohnt immer noch im Kibbuz Ramat Yohanan, weil sie als Tochter eines Mitglieds hier kaum Miete zahlen muss. Vor ihrem Haus steht ein Bäumchen, an dem die besten Mandarinen des Dorfes wachsen. Sie fährt dreimal pro Woche nach Tel Aviv und macht dort eine Ausbildung bei einem Diamantenhändler. Sobald sie fertig ist und mehr Geld verdient, will sie weg. „Ich bin keine Pazifistin. Aber es gibt in deren Verständnis nur diesen Status. Ich weiß, dass Israel Feinde hat und dass wir im Krieg leben. Aber meine Angst, wieder nur ein Teil irgendeiner Idee zu sein, ist größer als die Angst vor Waffen und Bomben.“ Wie alle anderen Bewohner, muss sie im Kibbuz einen gemeinnützigen Dienst übernehmen. „Es geht gar nicht darum, dem Land etwas zurückzugeben. Das Land, das System, will Dir etwas wegnehmen.“ Sie hat sich für die Arbeit in ihrem alten Kindergarten entschieden.


Pseudo-Freiheit im Chaos-Kindergarten

Von Laura Koppenhöfer

 

Der Kibbuz-Kindergarten, in dem Zoof arbeitet, ist – gelinde ausgedrückt – ein Chaos. Spielsachen liegen wild verstreut im Matsch, darunter umgeworfene Klettergerüste, Wackersteine, ein zum Trampolin umfunktioniertes Sofa. Die vielen Kaninchen und Hühner, die sich wie selbstverständlich unter die Kinder mischen, hinterlassen im Minutentakt frische Spuren. Zäune gibt es nicht.

 

Auch Zoof konnte sich als Kind frei auf dem Kibbuz-Gelände bewegen. Halbnackt und barfuß kletterte sie auf Bäume und auf Felsen herum, „alles war weit und offen“.

Einmal lief sie mit einer Freundin weit hinaus, bis zu den Fruchtplantagen. Erst nach Stunden wurde das Verschwinden der beiden fünfjährigen Mädchen bemerkt. „Das ganze Kibbuz suchte nach uns.“ Zoof mag diese Geschichte sehr. Wären doch alle ihre Kindheitserinnerungen so schön.

 

Heute weiß Zoof, dass auch die Freiheit im Chaos-Kindergarten trotz Trampolin-Sofa und freilaufender Karnickel eine Illusion ist. „Tiere gibt es aus einem Grund – weil die Lehrerin Tiere mag.“ Seit 17 Jahren habe sie hier das Sagen, sie schreibe alle Abläufe und Regeln vor. Mitarbeiter haben kein Mitspracherecht. Bald wolle die Lehrerin das Kindergartengelände zwei Meter hoch einzäunen lassen. Wenn es nach Zoof ginge, würden hier bestimmt keine Zäune aufgestellt. Zu gut erinnert sie sich an die Zwänge, denen sie selbst im Kindergarten ausgesetzt war.

 

Lange Zeit verbrachte Zoof jeden Mittag im Badezimmer. Eingesperrt musste sie abwarten, bis die anderen Kinder fertig gegessen hatten. „Meine Lehrerin hatte eine sehr gemeine Vorstellung von Erziehung.“ Freitags durften die Kinder traditionelle jüdische Brote backen und für die Sabbat-Feier mit nach Hause nehmen. Alle außer Zoof.

 

„Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, für was ich eigentlich bestraft wurde.“ Ihre damalige Lehrerin würde sagen, Strenge habe noch keinem Kind geschadet. Zoof sagt, sie ist traumatisiert.

 

Zoof glaubt, dass ihr „Problem mit Autoritäten“ mit ihren Kindheitserinnerungen zusammen hängt. Sie verweigerte den Kriegsdienst, weil sie nicht Teil eines Systems werden wollte, „in dem einige wenige Menschen über das Leben vieler anderer bestimmen“. Sie verabscheut die „Kibbuz News“, in denen Bewohner gemeldet werden, wenn sie sich nicht prinzipienkonform verhalten. „Wenn du dort liest, dass du vollgepumpt mit Alkohol und Drogen auf einer Party gesehen wurdest, in Wahrheit aber stocknüchtern warst, dann ist das ziemlich ärgerlich.“ Wie gerne würde Zoof in ihrem eigenen Haus im Grünen leben. Abstand zum nächsten Haus: „Mindestens ein Kilometer.“

Die Enge im Kibbuz erträgt sie trotzdem weiter. Der Komfort hält sie hier. Das Kibbuz zahlt die Gebühren ihrer Schule, wo sie Edelsteinhandwerk lernt. Sie genießt Mietfreiheit, im Tausch gegen ihre Arbeit im Kindergarten. „Ich muss mir hier über nichts Sorgen machen.“ All das will sie noch nicht aufgeben. Ein paar Jährchen Bequemlichkeit will sie sich noch gönnen. Aber für immer hier bleiben? „Niemals.“

 

Bald wird sich Zoof offiziell entscheiden müssen: In or out. Mit 28 Jahren muss sich jeder Kibbuz-Bewohner festlegen: Lebenslange Mitgliedschaft mit allen dazugehörigen Privilegien oder Degradierung zum Gast, der keine Pflichten, aber auch keine besonderen Rechte hat. Im Grunde ist Zoofs Entscheidung längst gefallen. Aber noch ist sie nicht bereit, Abschied zu nehmen. Sie hat ein wenig Angst vor dem Sprung nach draußen. „Wir Kibbuz-Leute sind so anders. Wir passen einfach nicht dazu.“ Doch spätestens beim nächsten Eintrag in den „Kibbuz-News“ ist sie wieder da: Die Sehnsucht nach mehr Selbstbestimmung, nach mehr Freiheit – und nach dem eigenen einsamen Haus im Grünen.

 

Generation Tokio Hotel / Nur die Musik zählt

Von Nicholas Brautlecht

 

Gaby Goldberg bekommt in letzter Zeit häufiger Anrufe von verzweifelten Müttern. Sie alle haben das gleiche Problem. Aber darauf kommen sie oft erst gegen Ende der Unterhaltung zu sprechen. Zuerst erregen sich die Mütter über den jüngsten Lehrerstreik, erzählen, wie sie sich zwei Monate lang zuhause mit ihren pubertierenden Kindern herumschlagen mussten. Dann erst beichten die Anruferinnen der Dozentin den wahren Grund ihrer Verzweiflung: Ihre Kinder würden gern Deutsch lernen. Wegen Tokio Hotel. Dieser Band aus Magdeburg. „Das ist denen hochgradig peinlich“, sagt Gaby Goldberg und lacht.

 

Die 47-jährige mit dem Kurzhaarschnitt lehrt seit 13 Jahren Deutsch am Goethe Institut in Jerusalem und ist Nutznießerin eines Musiktrends: Israelische Mädchen lieben Tokio Hotel. Sie lieben sie so sehr, dass sie mit einer Leserbrief-Kampagne das populäre Jugendmagazin „Rosch Echad“ dazu bewegten, zum ersten Mal in seiner Geschichte eine deutsche Band auf den Titel zu heben. Dem sei jedoch eine gründliche Recherche vorausgegangen, versichert Avi Morgenstern, Chefredakteur der Zeitschrift bei einem Gespräch in Tel Aviv. Man habe bei der Band jegliche Nazi-Verbindungen ausschließen wollen. Seither landeten die vier Deutschen sogar zweimal auf dem Titelbild der „israelischen Bravo“.

 

Aber damit nicht genug. Die israelischen Tokio-Hotel-Fans wollten nicht nur über ihre Stars lesen. Sie wollten sie auch hören und nicht nur im israelischen Radio – wo die Band die Charts erstürmt hat – sondern live. Also verfassten sie eine Petition mit etwa 6000 Unterschriften, in der sie einen Auftritt in ihrem Land forderten. Die israelische Botschaft in Berlin reichte das Schreiben an die Bandmitglieder Bill, Tom, Georg und Gustav weiter und Anfang Oktober war es dann soweit: Die vier Jungs flogen nach Tel Aviv und gaben ein Open-Air-Konzert vor 3000 vorwiegend weiblichen Fans. Der Ansturm war so groß, dass zwei Glastüren im Eingangsbereich des Veranstaltungszentrums zersprangen.

 

Auch Naomi Lubinetzki wäre gern dabei gewesen. Doch ihre Eltern erlaubten es nicht. Die Enttäuschung darüber steht der 13-jährigen aus Haifa auch Wochen später noch ins Gesicht geschrieben. „Ich habe viel geweint an dem Tag“, sagt Naomi. Doch ihre Eltern blieben hart. Schließlich war Sabbat. Am jüdischen Feiertag wird geruht. Ausflüge nach Tel Aviv sind da nicht drin. Und so zog sich Naomi am Tag des Konzerts in ihr Zimmer mit den Dutzend Tokio-Hotel-Postern zurück und schaltete sich live dazu: Sie rief ihre beste Freundin an. Die war nämlich da. Auf dem Konzert. Das Handy in der Hand. So konnte Naomi doch noch etwas von dem Auftritt mitbekommen. Auch wie Bill sich bei den Fans bedankte und „Toda Raba“ in die Menge rief. Ihre beste Freundin ergatterte sogar ein Stück des verschwitzen Handtuchs, das der Tokio-Hotel-Sänger mit den wild toupierten Haaren in die kreischende Menge warf.

 

Dass Deutsch mit Tokio Hotel „in“ geworden ist, hat auch Naomi gemerkt. Sie lebte bis zur Grundschule in Düsseldorf und spricht die Sprache fließend. „Früher haben hier alle behauptet, Deutsch sei hässlich, die Sprache der Nazis und des Zweiten Weltkriegs“, sagt sie. Auch jetzt würde sie im Streit mit anderen Jugendlichen gelegentlich noch als Nazi beschimpft. Doch seitdem Israels Teenager aus dem Internet Lieder wie „Durch den Monsun“, „Schrei“, „Spring nicht“ herunterladen und mit dem Konterfeit von Bill und Tom bedruckte Mappen in die Schule tragen, gilt Deutsch nicht mehr als die „Sprache der Täter“. Unter Jugendlichen steht Deutsch nun für die großen Gefühle, für Liebe, Verzweiflung und Freundschaft. „Für viele ist es jetzt die beste Sprache der Welt“, sagt Naomi.

 

Dabei wird an israelischen Schulen gar kein Deutsch unterrichtet. Da haben Englisch und Französisch Vorrang. Nur einige Dutzend Gymnasiasten nutzen jedes Jahr eine Sonderregelung und lassen sich ihre Deutsch-Kenntnisse beim Bagrut, dem israelischen Abitur, anrechnen. Abgenommen wird die Prüfung vom Goethe-Institut, das auch Vorbereitungskurse anbietet. In Haifa und Tel Aviv gibt es zudem einige wenige Schulen, in denen Schüler freiwillig an einer Art Deutsch-AG teilnehmen können. Auch Naomis Freundinnen Avishag und Avital wollen irgendwie die Sprache ihrer Lieblingsband lernen. Bislang muss Naomi die Songtexte für sie noch ins Hebräische übersetzen. Aber das soll sich bald ändern, sagen sie. Auf jeden Fall. „Denn die Texte sind nicht oberflächlich, sondern haben Tiefgang“, schwärmt die 16-jährige Avishag.

Dass Deutsch nun in Israel zur neuen Trendsprache ernannt wird, kommt für viele überraschend. Zwar mag sich dieses Phänomen nur auf die Jugend begrenzen. Doch wurde alles Deutsche lange Zeit tabuisiert. In der ganzen israelischen Gesellschaft. Die vor mehr als fünfzig Jahren zwischen Deutschland und Israel geschlossenen Wiedergutmachungsverträge halfen sicherlich, diese Haltung aufzuweichen. Aber noch im Jahr 2000 hatte der damalige Bundespräsident Johannes Rau mit seiner auf deutsch gehaltenen Rede in der Knesset für große Aufruhr gesorgt. Manch Abgeordneter blieb der Sitzung fern, weil er es nicht ertragen konnte, im eigenen Parlament die deutsche Sprache zu hören.

 

Gibt es also 60 Jahre nach der Staatsgründung eine „Generation Tokio Hotel“ in Israel, die mit Deutschland und der deutschen Sprache gänzlich unbelastet umgeht? Durchaus, meint Gaby Goldberg. Die Jugend, so die Deutschlehrerin, schaffe durch ihre Neugier eine Art Nische im deutsch-israelischen Verhältnis. Früher hätten ein paar der älteren Menschen beim Einstufungstest im Goethe Institut die Hände gezittert. Heute kämen die jungen Mädchen in die Jerusalemer Sokolov Straße 15 und können es kaum abwarten, die Worte des neuesten Tokio-Hotel-Hits zu lernen. Nur eine Masche? Nein, sagt Gaby Goldberg. Sie glaube, dass dieser Trend länger anhalten wird. Es sei nicht so wie 2006, als die Fußballweltmeisterschaft die Zahl der männlichen Teilnehmer bei den Sprachkursen nach oben schnellen ließ. „Die waren nach der WM auch wieder weg“, sagt sie. Nein, Tokio Hotel sei anders. Deren Musik gehe durch den Bauch und alles was durch den Bauch gehe, dränge anderes zurück.

 

Auch Adam Reiter wundert sich nicht über den Imagewandel . Der 22 Jahre alte Lockenkopf jobbt in einem Plattenladen in Haifas Oberstadt, Central Carmel. Fast täglich führt er junge Kundinnen in den hinteren Teil des Geschäfts, dorthin, wo die vier bislang erschienenen Tokio-Hotel-CDs im Fach liegen. Auch seine elfjährige Schwester Yael fahre voll auf die deutsche Band ab, erzählt der Verkäufer. Sie habe sich alle Tokio-Hotel-Alben zum Geburtstag gewünscht. Einmal habe er seine Schwester gefragt, wie sie sich denn all die Lieder anhören könne, wenn sie doch die Worte nicht verstehe. „Da hat mir Yael die ersten beiden Strophen von „Durch den Monsun“ vorgesungen – auswendig!“ Seitdem wundere ihn gar nichts mehr. Die Nazi-Zeit sei zwar weiterhin

 

Unterrichtsthema in den Schulen, sagt Reiter. Aber sobald die Jugendlichen durch das Schultor wieder raus seien, spiele die Geschichte keine Rolle mehr. „Das ist einfach zu lange her.“

"Douki-schmouki" ist schwieriger, als es sich anhört


Zwei Initiativen für Koexistenz in Israel

Von Christine Apel

 

Im Dezember verwandelt sich Wadi Nis Nas in ein Gesamtkunstwerk. Dann stellen gut 100 jüdische und arabische KünstlerInnen ihre Arbeiten in den Gassen des orientalischen Viertels von Haifa aus. Der "Pfad der Koexistenz" durch die Unterstadt ist mit gelben Fußabdrücken gekennzeichnet, um den Gästen den Weg durch das Labyrinth zu weisen. Auf Stelltafeln sind Gedichte in Hebräisch, Arabisch und Englisch zu lesen. Zwischen den Häusern und auf dem Basar stehen Skulpturen und Installationen. Von Dächern und Wänden baumeln Gemälde in allen Formaten herab. Auf einer Anhöhe trotzt ein Flügel den Elementen und wartet auf seinen Einsatz.

Dass der Auftakt zum diesjährigen "Holyday of the Holydays" buchstäblich ins Wasser fällt, tut der Festlaune keinen Abbruch. Denn die Gäste können bei Konzerten, Lesungen oder Aufführungen, Vorträgen und Gebeten in geschlossenen Räumen Zuflucht vor dem Regen finden. Das Festival der Feste, bei dem zugleich und nacheinander das jüdische Lichterfest Chanukka, das muslimische Opferfest Eid al-Adha und das christliche Weihnachten gewürdigt werden, findet zum 14. Mal rund um das Beit Hagefen statt. Das "Traubenhaus'' wurde 1963 gegründet als Begegnungsstätte für jüdische und arabische Nachbarn. Heute ist der Begriff "Haus'" leicht untertrieben, denn Beit Hagefen hat sich inzwischen auf mehrere Gebäude an einer Kreuzung im Wadi Nis Nas ausgedehnt.

 

Haifa wird von seinen Stadtvätern gern als "Stadt der Toleranz und des Friedens'' gelobt. Hier soll das "douki-schmouki" - multikulti auf Hebräisch - reibungsloser funktionieren als andernorts in Israel. Das könnte daran liegen, dass weder Mose noch Jesus noch Mohammed je hier waren und deshalb keine der Gemeinden Haifa als "ihren heiligen Ort“ beansprucht, meint Sahawa Korenjo vom Beit Hagefen.

 

Seit 1948, als hier rund 92.000 Menschen lebten, ist die Stadt auf gut 267.000 EinwohnerInnen angewachsen. Damals lebten hier je zur Hälfte jüdische und arabische Menschen, berichtet Korenjo. Nach der Staatsgründung flohen die meisten Araber, obwohl die jüdischen Nachbarn sie zum Bleiben aufforderten. Heute sind etwa 20 Prozent der Bevölkerung arabische Israelis. Von ihnen wiederum sind 65 Prozent Christen und 35 Prozent Muslime. Daneben leben in Haifa etwa 900 Drusen, Angehörige der Bahai und der Ahmadiyya-Bewegung sowie russische und ethiopische Einwanderer, sogenannte Alijot.

 

Anfangs wurde im Traubenhaus vor allem eine Mädchenschule betrieben. Bis heute hat sich das Angebot erheblich ausgeweitet. Es gibt ein eigenes Theater, eine Kunstgalerie, Werkstätten für Kunst und Handwerk. Außer den Holyday of the Holydays organisiert das Beit Hagefen auch den Monat der arabischen Kultur im Mai.

 

Das Kernstück der Arbeit des 30-köpfigen Teams unter Leitung von Wafa Zuabi-Fahoum ist aber die Kinder- und Jugendarbeit, vor allem die Begegnung zwischen arabischen und jüdischen SchülerInnen aller Altersgruppen. Sie treffen sich in gemischten Gruppen, in denen sie nicht nur zusammen lernen, Sport treiben, musizieren, bildhauern oder malen. Regelmäßig finden auch Gesprächsrunden statt, die dem Austausch von Gedanken und dem besseren Kennenlernen dienen.

 

Aus dieser Arbeit weiß Sahawa Korenjo, wie hartnäckig sich Stereotypen halten. Vor allem die letzte palästinensische Intifada, die im Herbst 2000 begann, habe bei jüdischen Kindern wieder das Vorurteil genährt, alle Araber seien "Terroristen". Während des Libanonkrieges im Sommer 2006 äußerten indes viele arabische Jugendliche die Ansicht, dass ihre jüdischen Altersgenossen wohl mehr Angst vor den Raketenangriffen gehabt hätten. In den Gesprächen vor den Arbeitsgruppen werde versucht, diese Vorurteile zu besprechen und so langsam aufzulösen. Wenn der Libanonkrieg überhaupt eine gute Seite gehabt habe, dann sei es, dass nicht mehr die einen "die Israelis'' und die anderen "die Araber'' für alles Schlechte verantwortlich machten, sondern dass es plötzlich einen gemeinsamen Feind gebe: Die Hizbollah, deren Raketen keinen Unterschied machten zwischen Juden und Arabern, meint Korenjo.

 

Die Angebote des Beit Hagefen würden gut angenommen. Dennoch, "dicke Freundschaften" entstünden eher selten zwischen jüdischen und arabischen Kindern und Jugendlichen. Korenjo wertet es als Erfolg ihrer Arbeit, wenn sich die Jugendlichen, die in einer Nachbarschaft lebten, auf der Straße begrüßten, statt wortlos aneinander vorüberzugehen.

Was es nach wie vor erschwert, die Kluft zu überwinden, ist, dass die SchülerInnen verschiedene Schulen besuchen. Insofern wird wohl die Arbeit des Beit Hagefen in der "Stadt der Toleranz" noch lange nicht erledigt sein.

Keep the promise - Haltet das Versprechen

Von Christine Apel

 

In Israel sind Hebräisch und Arabisch gleichberechtigte Amtssprachen. In der Praxis sehe es jedoch so aus, dass fast alle arabischen Israelis Hebräisch, aber nur etwa 20 Prozent der Juden Arabisch lernten, sagt Amnon Beeri-Sulitzeanu, der Geschäftsführer der Abraham-Stiftung, die sich seit 1989 für Koexistenz einsetzt. Dies sei auch nötig, da die Politik bisher meist die Haltung einnahm, dass das Zusammenleben zwischen jüdischen und arabischen Israelis sich schon irgendwie von selbst regeln würde. Die meisten Politiker seien der Ansicht, es gebe keinen Bedarf für Arabischunterricht. Deshalb wolle die Abraham-Stiftung der Regierung das Gegenteil beweisen, so Amnon Beeri.

 

Der Initiative der Abraham-Stiftung sei es zu verdanken, dass es inzwischen landesweit bereits vier Schulen gibt, an denen beide Sprachen zum Pflichtunterricht gehören sowie jüdische und arabische SchülerInnen gemeinsam unterrichtet werden, erklärt Maya Popper. Als die Stiftung mit dem zweisprachigen Unterricht begann, hatten sie 4.000 SchülerInnen, heute seien es bereits 12.000.

 

Wenn also nicht gerade die LehrerInnen streiken wie in diesem Herbst, dann sind die MitarbeiterInnen der Stiftung auch in den Schulen aktiv. "Sprache als kultureller Brückenschlag" heißt das Projekt, in dessen Rahmen der Unterricht in der arabischen Sprache und Kultur an öffentlichen Schulen angeboten wird. Inzwischen wird das Projekt landesweit umgesetzt und von Behörden unterstützt. "Mirkam (Gewebe) für eine gemeinsame Zukunft in Galiläa" heißt ein anderes Vorhaben, das jüdische und arabische Führungspersönlichkeiten zusammenführt. Zu den "Mirkam"-Begegnungen werden tausende jüdischer und arabischer Grundschulkinder zusammengebracht, um bei diesen Begegnungen den "Anderen" erstmals zu erleben.

Wer diese Begegnungen vertiefen möchte, kann sich im Kinder- und Jugendzirkus engagieren. Dort fällt es den Jugendlichen am leichtesten, die Unterschiede zu überwinden und bisweilen zu vergessen: "Wir sind hier eine große Familie. Hier spielt es keine Rolle, ob ich jüdisch oder arabisch bin", sagt Manar, eine der TeilnehmerInnen.

 

Die Abraham-Stiftung konzentriert ihre Arbeit vor allem auf die Gleichstellung jüdischer und arabischer StaatsbürgerInnen. Das bezieht die Palästinenser in den Autonomiegebieten ausdrücklich nicht mit ein, erläutert Amnon Beeri. Viele Israelis befürchteten, dass sich die arabischen BürgerInnen nach einem Friedensschluss mit den Palästinensern solidarisieren könnten. Deshalb befürwortet der Geschäftsführer der Abraham-Stiftung eine "Scheidungsvereinbarung" mit den Palästinensern und einen "Ehevertrag" mit den arabischen Israelis. Er selbst ist zuversichtlich, dass ein Friedensvertrag noch zu seinen Lebzeiten zustande kommen wird, räumt aber ein, dass nicht viele Israelis seine Zuversicht teilen, denn sie hätten schon zu viele Enttäuschungen erlebt.

 

Viele Juden, die Israel besuchten, würden die Tatsache ignorieren, dass 20 Prozent der Bevölkerung arabisch sei, sagt Amnon Beeri. Andererseits würden moderne Zionisten vor allem aus den USA einsehen, dass die Koexistenz gefördert werden müsse. Leider gebe es derzeit noch keine Partner in arabischen Staaten. Allerdings gebe es erste Kontakte zu ägyptischen und jordanischen Stellen.

 

Vor 20 Jahren gab es noch keine Grundlagen für ein Zusammenleben und kaum Berührungspunkte, sagt Maya Popper. Deshalb nahm sich die Abraham-Stiftung vor, die Politik zum Eingreifen zu bewegen. Ziel sei es, die Regierung dazu zu bringen, das Versprechen der Unabhängigkeitserklärung einzulösen, wo es sinngemäß heißt: "Der Staat Israel garantiert seinen Staatsbürgern die komplette Gleichheit der sozialen und politischen Rechte ungeachtet der Religion, Rasse oder des Geschlechts". Von diesem Versprechen sei die alltägliche Realität weit entfernt, so Amnon Beeri. Und auch in der Bevölkerung gibt es viele Ressentiments. Doch Premierminister Ehud Olmert sei der erste, der einsehe, dass der Staat Koexistenz durch gezieltes Eingreifen fördern müsse. Derzeit bereitet die Abraham-Stiftung eine Präsentation für das Büro von Ministerpräsident Olmert vor, erklärt er - ein bisschen stolz.

Radio in Uniform

Von Nicole Markwald

 

Es ist unser allererster Morgen in Israel. Wir sind in einem kleinen Bus von Haifa nach Tel Aviv gefahren. Unser erster Termin: Galei Zahal, der Armeeradiosender. Und einer der beliebtesten Jugendradiosender des Landes. Wir stehen in der Musikredaktion. CD-Stapel auf dem Schreibtisch, CD-Regale im Rücken und davor der 21-jährige Asaf Charnilas, der versucht uns zu erklären, wie Musik ins Programm von Galei Zahal kommt. Plattenfirmen, Künstler selbst oder kleine Vertriebe schicken Songs ein. Manchmal kommen die Tipps auch von Hörern. Einmal wöchentlich setzen sich die Musikredakteure zusammen, streiten und entscheiden, setzen Geschmäcker durch und heben musikalische Trends ins Programm. Wenn es gut läuft, wird ein Song 3x pro Tag gespielt. So weit, so normal.

 

Doch da haben wir schon mehrere Aha-Momente hinter uns. Vor dem Eingang des Senders: Soldaten in Uniform, Hand am Gewehr. Der Weg in die Musikredaktion führt durch einen bunkerartigen Raum. Fest verschließbare Türen, die aus dem Raum einen Safe machen können, über kleine Abzugsöffnungen kann saubere Luft hineinströmen – diese rund 10 Quadratmeter haben eine besondere Funktion: im Falle eines Giftangriffs können sich die Mitarbeiter hier erstmal aufhalten. Da ist uns Israel-Novizen schon längst aufgegangen: normal ist hier nichts.

Galei Zahal ist ein Radiosender in Tel Aviv-Jaffa, der zum großen Teil von Soldaten gemacht wird. Rund 2000 Bewerbungen gibt es pro Jahr. Die Armeezeit ist lang – drei Jahre steigen junge Israelis aus dem zivilen Leben aus, um ihrem Heimatland zu dienen. Das ist eben auch bei Galei Zahal möglich. Aber von den 2000 Bewerbern pro Jahr werden lediglich 20-25 Soldaten genommen. Nach einem zweimonatigen Basistraining werden die jungen Erwachsenen auf die verschiedenen Redaktionen aufgeteilt. Und für viele ist eine Armeezeit bei Galei Zahal das Ticket in eine journalistische Karriere. Auch Asaf hat hier seine Armeezeit abgeleistet und ist nun Musikredakteur und –moderator.

 

Wie auch bei vielen deutschen Radiosendern üblich, spielt Galei Zahal am Abend Musikspezialsendungen. So wird zum Beispiel jeden Mittwoch in der Zeit zwischen 20 und 22 Uhr Hebrew music gespielt. Hebräische Musik hat hier allerdings keinen Exotenstatus, als dass es dafür eine gesonderte Spezialsendung braucht. Es gibt eine selbst auferlegte Quote für hebräische Musik: 6 Songs pro Stunde. Asaf erklärt uns, dass man damit den Wünschen der Hörer nachkommt.

 

Nur für arabische Musik gibt es keine Spezialsendung. Obwohl die es vielleicht am ehesten nötig hätte. Rund 18% aller Israelis sind arabisch. Ihre Musik wird bei Galei Zahal aber gar nicht gespielt. Wie es eine Ausnahmeregelung für die Musik im Sender gibt, gibt es auch eine Ausnahmeregelung für israelische Araber bei der Armee. Sie sind von der Wehrpflicht ausgeschlossen. Es wird immer komplizierter.

 

Reklame sendet Galei Zahal nicht. Finanziert wird der Sender von verschiedenen NGOs, Lottogeld und gelegentlichen Finanzspritzen von Universitäten. Das Gehalt kommt von der Armee. Der Inhalt nicht – sagt uns Tunik Izhak, der Chefredakteur. Ein Armeesender, der von der Armee gemacht wird und vom ganzen Volk gehört wird. Radio spiele eine größere Rolle als in anderen Gesellschaften, fügt Tunik Ishak hinzu. Der Sender funktioniert als verbindendes Element zwischen Soldaten und daheim gebliebenen Familien, seine Inhalte sind Gesprächsstoff, seine Musikauswahl ist geschmacksbildend.

 

Der Chef des Hauses sagt auch, man berichte über alles, ausnahmslos. Ausnahmslos? Vielleicht ist es nur ein Zufall, dass Tunik Izhak unsere Gesprächsrunde verlässt, als eine Frage zum Thema Armeeverweigerung gestellt wird. Im Hinausgehen sagt er, wir würden nach einer Woche uns ein ganz eigenes Bild machen können. Aber das junge Israelis, die sich gegen die Armee entscheiden, es bedeutend schwerer haben, ihren Platz in der israelischen Gesellschaft zu finden, wird uns hier schon deutlich. Unsere Fragen nehmen zu, statt ab.

 

Uns erstaunt die Geschäftigkeit im Sender. Es sind ungewöhnlich viele Mitarbeiter. Und die wollen alle beschäftigt werden. Um kurz vor 2 am Nachmittag ist es Zeit für Kultur: die zehnminütige tägliche Sendung ist mit ‚Entertainment Today’ etwas flapsig betitelt. Dabei geht es in den zehn Minuten nicht um den neuesten Promi-Klatsch, sondern um Theater, Konzerte, neue Filme, Hoch- und Popkultur. Die Philosophie hinter ‚Entertainment Today’ ist einfach, wie der verantwortliche Redakteur Effy Benavraham erklärt: „Give us ten minutes and we’ll tell you everything you can do today.“ Man will nicht erziehen, sondern auf das hinweisen, was es zu erleben gibt. Für Effy Benavraham bedeutet die Arbeit mit jungen Soldaten auch eine ständige Suche nach neuen Radiotalenten, abhängig davon, wie viel Erfahrung sie mitbringen, ist seine Arbeit mal mehr oder weniger erklärungsintensiv.

 

Nach der Kultur folgen die Nachrichten. Während der Nachrichtensprecher an einem kleinen Tisch sitzt und seine Nachrichten liest, schleicht auch ein uns bekanntes Gesicht ins Studio: es ist Asaf in Jeans, Shirt und Sneakers. In der Hand jede Menge Zettel, im Gesicht ein Lächeln. Mit 21 liegt die Armeezeit hinter ihm. Dem Sender bleibt er trotzdem treu, schließlich hat er eine eigene Musiksendung bekommen. Asaf steckt mittendrin, im Leben in diesem kleinen, besonderen, merkwürdigen Land – das wir gerade erst beginnen kennenzulernen.

 

Zwillinge für 90 Minuten

von Beate Seel

 

Palästinensische und israelische Jugendliche treffen sich auf "neutralem" Terrain bei Jerusalem, um Fußball zu spielen. Der arabische Trainer kommt allerdings nicht immer durch den Kontrollpunkt Der Fußballplatz bietet einen traurigen Anblick. Die ehemals weiß gestrichenen Metalltore rosten vor sich hin, die Netze sind zerrissen. Das Gras wächst spärlich. Auf der einen Hälfte des Platzes steht das Wasser knöchelhoch, weil ein Wasserrohr gebrochen ist. Doch die etwa fünfzig palästinensischen und israelischen Jungen, die während des Schuljahres regelmäßig gemeinsam und in gemischten Mannschaften Fußball spielen, ficht das nicht weiter an. Das Spielfeld liegt jeweils auf "neutralem" Gebiet - also nicht in den Wohnorten der Kinder; die Israelis können nicht ins Westjordanland fahren. Heute liegt das neutrale Terrain vor dem Kibbuz Ramat Rachel bei Jerusalem.

 

Die Idee für dieses grenzübergreifende Projekt stammt vom Peres Center for Peace in Tel Aviv, das 1996 von dem israelischen Politiker und Träger des Friedensnobelpreises, Schimon Peres, gegründet wurde. Gal Peleg, der das Sportprogramm des Zentrums leitet, geht es darum, dem "Feind" ein Gesicht zu geben. "Für die Palästinenser sind die Israelis Soldaten und für die Israelis sind die Palästinenser Terroristen", sagt er. "Aber beide können Fans der gleichen Fußballspieler sein. Das Fußballspielen ist auch ein Instrument, eine andere Sprache zur Verständigung." Palästinensischer Projektpartner ist das Al-Quds-Zentrum für Demokratie in Ostjerusalem.

An diesem kühlen Spätnachmittag versammeln sich die palästinensischen und israelischen Jungen an getrennten Ecken des Spielfeldes, um sich umzuziehen. Die 25 Palästinenser aus Jaba und Al Khadr bei Bethlehem sind heute ohne ihren Trainer angereist, der am Checkpoint nicht durchgelassen wurde.

 

Untereinander sprechen die Kinder meist Hebräisch, weil die meisten Israelis kein Arabisch können. "Beim Fußball können wir uns auch ohne Worte mit Gesten verständigen," sagt der 12-jährige Chanan mit einer grünen Kippa, der Kopfbedeckung der religiösen Juden, die beim Kicken manchmal runterfällt. Selbstbewusst und redegewandt erläutert er, warum er die "Zwillingsteams", wie das Projekt heißt, für eine gute Idee hält: "Wenn man sich nicht anders verständigen kann, kann man es über den Sport versuchen." Mit den Palästinensern habe er keine Probleme, "höchstens auf der Straße". Selbstverständlich will Chanan Fußballspieler werden, auch wenn das mit Problemen verbunden ist, weil viele Spiele am Samstag, dem jüdischen Feiertag stattfinden.

Der gleichaltrige Ahmad zögert bei der Beantwortung der Frage, ob er einen israelischen Freund habe. Sein jüngerer Cousin Mahmud mischt sich ein und sagt: "Doch, du hast einen!"

 

Die Kontakte sind jedoch auf die sportlichen Begegnungen beschränkt. Alles andere sei zu kompliziert. Für Ahmad, der im Tor steht, sind die Fahrten zu den Spielplätzen auf den neutralen Gebieten ein Erlebnis. Israel gefällt ihm. "Aber Palästina ist sehr schön", fügt er schnell hinzu.

Inzwischen haben die jüngeren Kinder mit ihrem Spiel begonnen. Obwohl sie alle zu Hause regelmäßig trainieren und feste Positionen in der Mannschaft einnehmen, stürzen alle dem Ball hinterher. Das Spiel endet unentschieden, 1:1.

 

Doch ganz ohne Probleme geht es auch bei den Zwillingsteams nicht ab. Und da landet man trotz gutem Willen schnell wieder bei der großen Politik, etwa den zahllosen Reisebeschränkungen, denen die Palästinenser unterliegen. Wenn die jungen Fußballspieler am Checkpoint sagen, dass sie im Rahmen des Peres-Zentrums unterwegs sind, berichtet Wael Salameh vom Al-Quds-Zentrum, werden die israelischen Soldaten ganz freundlich. Aber die Jungen wissen genau, dass das bei der nächsten Fahrt mit ihren Eltern wieder anders sein kann.

 

Und an manchen Tagen haben einige der Palästinenser keine Lust, mit den Israelis zu spielen. Vor allem dann, wenn sie im Fernsehen Bilder einer israelischen Militäraktion im Gaza-Streifen mit Toten sehen. "Dann müssen wir sie schon überzeugen", sagt Salameh. "Wir erklären ihnen, worum es geht und dass es auch gewaltfreie Wege gibt, sich für seine Ziele einzusetzen." Aber oft genug, sagt er, hören sie zu Hause oder auf der Straße etwas anderes.

 

Leben mit der Gefahr 
Für Jugendliche im Nahen Osten gehört der israelisch-palästinensische Konflikt fest zum Alltag

von Jan Hollitzer

 

Terror, Trauer, Todesangst. Seit seiner Gründung 1948 ist der Staat Israel hart umkämpft. Derzeit eskaliert die Lage in den palästinensischen Gebieten. Der Konflikt kostet jungen Menschen im Nahen Osten auf beiden Seiten vieles ihrer jugendlichen Unbeschwertheit. Eine Momentaufnahme.

 

„California Dreamin' “ – Gerade als sich der schlaksige Teenager mit dem braunen Kurzhaarschnitt vorstellen will, starten The Mamas & The Papas ihren Ohrwurm aus der Seitentasche seiner olivgrünen Hose. Hastig beendet er den Anruf. „Israel Fischel, 19 Jahre. Es war schon immer mein Traum, bei Galei Tzahal zu arbeiten.“ Der Armeeradiosender ist populär. Er teilt sich mit Col Israel den Spitzenplatz in der Hörergunst. Es gibt aktuelle Musik, Nachrichten und die Möglichkeit für Eltern, mit ihren Kindern in den Kasernen oder im Krieg zu sprechen.

 

Propaganda? Zensur? „Nicht mehr. Während des letzten Libanonkrieges haben wir die Organisation der Armee und die schlechte Ausrüstung der Soldaten kritisiert, sogar den Rücktritt unseres Verteidigungsministers Shaul Mofaz gefordert“, sagt Israel und ergänzt: „Die Arbeit hier ist wichtig für die Kameraden im Einsatz.“ Ein Stückchen Heimat, welches aus dem unscheinbaren mehrstöckigen Haus in Tel Aviv über den Äther geschickt wird und auch bei Tali ankommt.

 

Die 18-Jährige träumte von einer Ausbildung zur Balletttänzerin. Jetzt sitzt sie vor einer Kaserne auf den Golanhöhen im Grenzgebiet zu Syrien. Ihre Eltern sind zu Besuch. Ein kleiner Dönerspieß brutzelt. Es ist Samstag, Shabbat. Tali ist für zwei Jahre beim Militär. Männer müssen drei. Die Situation sei festgefahren. Keiner weiß, wie der Friedensprozess in Gang gebracht werden kann. Sicher ist nur: „Es wird einen neuen Krieg geben. Aber diesmal werden wir keine Fehler machen. Wir haben gelernt.“ Viele der Israelis erwarten bereits neue Kämpfe.

 

Isam will den Kampf. Für Frieden – aber als Anwalt, nicht mit dem Gewehr. Irgendwann, wenn er groß sei. Der palästinensische Junge ist sehr aufgeweckt für seine 12 Jahre. Er lebt in Newe Shalom, dem Friedensdorf, in dem Moslems und Juden zusammen wohnen. Akzeptanz für die andere Kultur entwickeln – das ist grob gefasst das Konzept der Gemeinschaft. Isam beherrscht Englisch, Hebräisch und Arabisch. Eine Ausnahme. Meist scheitert die Verständigung zwischen Arabern und Israelis schon an der Sprache. Doch die Idee von Newe Shalom mit seinen 52 Familien wird den Konflikt auch nicht beenden können. Die Moslems, die hier leben, haben sich von ihrem Glauben abgewandt. Die meisten Juden auch.

 

Auch Fard ist Palästinenser. Allerdings lebt er hinter den israelischen Checkpoints in Bethlehem. „Klar weiß ich, warum wir uns streiten. Die Israelis haben uns Land weggenommen. Mehr als ihnen zusteht“, sagt der 12-Jährige, der mit anderen Palästinensern in den Kibbutz Ramet Rahel in Jerusalem gekommen ist, um mit jüdischen Kindern in gemischten Mannschaften Fußball zu spielen. Das Peres Center for Peace organisiert diese Zusammenkünfte. Dem Gegner ein Gesicht geben, heißt es zur Erklärung. Fard könnte sich unter Umständen eine Freundschaft mit einem Israeli vorstellen. Hebräisch jedoch spricht er nicht. Und: „Frieden ist möglich, aber nur dann, wenn wir unser Land zurück und die gleichen Rechte und Möglichkeiten wie die anderen Kinder bekommen“, sagt er, bevor er mit dem Bus wieder hinter die Checkpoints muss.

 

Oriels Einstellung hingegen ist kategorisch. „Ich habe keine arabischen Freunde, ich will auch keine. Die hassen uns, die wollen uns töten. Das ist seit 1948 unser Land. Jerusalem gehört uns. Es kann keinen Frieden mit ihnen geben“, er ist zehn, besucht eine Schule für orthodoxe Juden in Tel Aviv und wirkt viel älter, während er diese Worte formuliert. Viel mehr will und hat er dazu nicht sagen.

 

500 Meter entfernt von der libanesischen Grenze lebt der zehnjährige Anas in einem Beduinendorf. Vor drei Monaten sind hier noch täglich Raketen drüber geflogen. Ganz in der Nähe wurden die beiden Soldaten entführt, die bis heute noch nicht wieder frei sind. Eine Frau aus dem Dorf und ihre zwei Töchter seien durch eine Rakete gestorben. Anas will weg, in die USA, „ich mag die Menschen dort und die Freiheiten“, er kenne das Land aus dem Fernsehen.

 

Kareen will nicht fort. Ihr gefällt das Land. Aber sie schüttelt den Kopf, als Michel optimistisch sagt: „In fünf, zehn, vielleicht auch fünfzig Jahren werden wir in Frieden leben“. Die beiden 14-jährigen Moslems sitzen im Computerkabinett der Italian Carmelite School in Haifa. Ein Fenster ist kaputt. Ganz in der Nähe schlug eine Rakete ein, Splitter flogen. In der Schule lernen Kinder verschiedener Religionen in gemeinsamen Klassen. Vorwiegend Christen und Moslems. Nur eine jüdische Familie hat ihre Tochter geschickt. „Es sind schon zu viele Menschen auf allen Seiten gestorben. Zu viele Gefühle sind verletzt“, sagt Kareen: „Ich wünsche mir ein normales Leben. Aber ich habe Angst vor der Zukunft.“

 

Spurenleser

von Luise Sammann

Die unverputzten Steine der Häuser sind grau. Auch der staubig trockene Boden ist grau. Grau ist sogar der Himmel, der den Einbruch der Dunkelheit ankündigt, die sich in wenigen Minuten über das kleine Dorf im Norden Israels legen wird. Ein knallroter Plastikstuhl vor einer Hauswand leuchtet wie ein Farbklecks, zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. Als würde er schreien. Aber er schreit nicht. Es ist ganz still. Hinter einer Hausecke entdecke ich plötzlich einen zweiten Farbklecks, der schnell wieder verschwindet, als ich meinen Kopf in seine Richtung drehe. Ich gucke wieder zu meinem Stuhl und sehe aus dem Augenwinkel, wie sich der bunte Zipfel vorsichtig wieder ein wenig vor wagt. Ganz langsam wird er größer, schiebt sich noch ein kleines Stückchen um die Ecke herum. Mit einem Ruck drehe ich den Kopf und sehe in zwei große braune Kinderaugen, die erschreckt unter einem gemusterten Kopftuch hervor gucken. Erwischt! Ich lache, und jetzt lächelt auch das kleine Mädchen vorsichtig.

 

Als ob sie den anderen ein Zeichen gegeben hätte, kommt eine ganze Gruppe von Kindern um die Ecke. Ein vielleicht zehnjähriges Mädchen zieht an jeder Hand einen kleinen Bruder hinter sich her, ein Junge trägt ein rosa Knäuel mit kurzen schwarzen Haaren auf dem Arm und ein anderer fährt auf einem gelben, quietschenden Dreirad neben ihm. Ganz zum Schluss kommt Bassam. Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, den Kopf ein bisschen gesenkt, die Augenbrauen hochgezogen. Seine kleinen Geschwister plappern auf Arabisch durcheinander und zupfen vorsichtig an meinem Ärmel. Bassam sagt nichts. Er wartet. „Do you speak English?“ Frage ich ihn. „A little bit“, er nickt.

 

Bassam ist zwölf Jahre alt. Er kommt aus einer Beduinenfamilie. Noch sein Großvater wohnte nie in einem Haus sondern zog mit seiner Familie und seiner Herde durch die Wüstengebiete im Nahen Osten. Inzwischen ist Bassams Familie sesshaft geworden und lebt in dem kleinen Beduinendorf Arab al-Ramsche direkt an der Grenze zum Libanon. Bassams Vater Ahmed arbeitet im Nationalpark neben dem Dorf als Wächter und Fährtenleser, um illegale Wilderer zu fassen.

 

Die Beduinen sind bekannt als besonders gute Spurenleser, denn früher in der Wüste war das lebenswichtig. Viele von ihnen arbeiten heute z.B. für die israelische Armee. Wenn Bassam jeden Tag um vier Uhr aus der Schule kommt, muss er in den Park und seinem Vater bis zur Dunkelheit helfen. Er ist ein guter Spurenleser, aber zum Beruf machen möchte er es nicht. Denn er ist auch ein guter Schüler – besonders in Physik. Wenn er mit 18 mit der Schule fertig ist, möchte er Physiker werden und in Jerusalem, der Hauptstadt Israels, arbeiten. „Jerusalem, das ist für mich die schönste Stadt der Welt“, sagt Bassam mit leuchtenden Augen und lässt sich auf den knallroten Plastikstuhl fallen, der immer noch an der grauen Hauswand neben uns steht. Und dann erzählt er mir, warum er Jerusalem so gut kennt.

 

Im Juli 2006, als der Libanonkrieg ausbrach, wurden alle Frauen und Kinder seines Dorfes nach und nach evakuiert. Nur die Männer blieben in Arab al-Ramsche, um die Häuser zu bewachen. Raketen schlugen in einem Nachbarhaus ein und eine Cousine des Vaters wurde mit ihren Töchtern getroffen und getötet. Bassam war damals froh, dass er noch ein Kind ist und nach Jerusalem musste, statt bei den Männern im Dorf zu bleiben. Auch wenn er sich schon oft gewünscht hatte, zu den Erwachsenen zu gehören. Über zwei Monate wohnten sie mit Hunderten anderen Familien in einem Krankenhaus mitten in Jerusalem und durften erst im September zurück in ihr Dorf. Jerusalem war schön und aufregend, aber es war eben nicht Bassams Heimat. Die erste freie Minute nutzte er, um mit seinen Brüdern und Cousins hinter dem Haus Fußballspielen zu gehen. Fast war alles wieder wie früher. Aber etwas hat sich verändert. Viele Kinder können nachts nicht mehr schlafen, viele schrecken ängstlich auf, wenn es irgendwo knallt. „Ich habe jeden Tag Angst, dass es wieder losgeht“, sagt Bassam und guckt auf seine Hände hinunter.

 

Inzwischen ist es um uns herum dunkel geworden. Bassam sitzt in seinem roten Plastikstuhl und hebt den Kopf. „Manchmal“, sagt er, „würde ich gern leben wie mein Großvater. Dann könnte ich meine ganze Familie nehmen und einfach weiter ziehen, bevor der nächste Krieg kommt. Aber andererseits“, fügt er hinzu und seine Miene hellt sich plötzlich auf, „könnte ich dann nicht mit meinen Freunden Fußball spielen und kein Physiker werden. Denn in der Wüste braucht man wohl keine Physiker.“

 

Hintergrundinfos:
Israel ist ein jüdischer Staat. Trotzdem leben über eine Millionen Nicht-Juden dort, jeder fünfte Staatsbürger ist Araber. Dazu gehören auch die etwa 170.000 Beduinen. Bis vor etwa fünfzig Jahren zogen die Beduinenfamilien mit ihren Herden durch den Nahen Osten. Aus Ziegenmilch machten die Frauen Joghurt, Milch und Käse, aus Ziegenhaaren Zelte und aus trockenem Gras Matratzen. Grenzen zwischen den Ländern waren nur Markierungen auf dem Boden und konnten einfach überquert werden. Heute befindet sich der jüdische Staat Israel in ständigem Konflikt mit seinen arabischen Nachbarländern, und die Grenzen sind durch bewaffnete Soldaten, Mauern und Zäune bewacht. Die Beduinen können nicht mehr einfach umherziehen. Die Umstellung vom Nomadenleben aufs Stadtleben war und ist für viele sehr schwer. Sie müssen versuchen, einen Mittelweg zu finden, in dem sie sich anpassen, ohne ihre eigenen kulturellen Werte völlig aufzugeben. Weil sie nicht mehr genug Weideland haben, um von ihren Herden zu leben, sind viele Beduinen arbeitslos geworden. Auf der sozialen Skala Israels stehen die Beduinen ganz unten.

 

„Ein tolles Land, oder?“

von T. W.

Ben Gurion Flughafen, Tel Aviv. Am Zollschalter. Eine Frau mit merkelscher Mundpartie verlangt meine Papiere. Ohne Worte, nur mit einer fordernden Handbewegung. "Ist es möglich, dass ich keinen Stempel in meinen Pass bekomme?", frage ich. Die Zollbeamtin lächelt. "Alles ist möglich", raunt sie, knallt dann aber doch einen Stempel in meinen Pass.

Angekommen im Heiligen Land. Vor mir liegen sieben Tage Israel. Eine Woche zwischen Kippa und Koran. Eine Woche, um zu sehen, wie die Jugend drauf ist in einem Land, wo Angst zum Alltag gehört.

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Sascha hat keinen Bock mehr aufs Militär. Kaum Sold, hässliche Uniform, langweilige Leute - die 20-Jährige aus Tel Aviv ist froh, wenn sie ihren Wehrdienst hinter sich hat. In drei Monaten sind die knapp zwei Jahre als Soldatin vorbei. Dann kann sie endlich studieren und muss sich nicht mehr mit militärischen Hierarchien rumplagen. "Mein Chef ist drei Jahre älter als ich und kann mich ins Gefängnis stecken. In welchem zivilisierten Land gibt es so einen Schwachsinn?" Sascha arbeitet für das Militär-Radio "Gal Galaz". Viele beneiden sie dafür. Auf eine der 40 Stellen bewerben sich 2000 Wehrdienstleistende. Die Auserwählten dürfen selbst Sendungen moderieren, Interviews führen und Musik aussuchen. Sascha sitzt an der Pforte, oder sie arbeitet als Sekretärin. Damit hat sie sich abgefunden. Sie spielt Flipper am Computer und nutzt jede freie Minute zum rauchen. Die männlichen Wehrdienstleistenden interessieren sie nicht. "Die sind alle bekloppt. Keine Ahnung warum, aber es ist so."

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Das Loch, das eine israelische Gewehrkugel in die Wohnzimmerwand von Aisches Elternhauses gerissen hat, ist so groß wie ihre Hand. Die Soldaten kamen gestern Nacht. Mit einer Hundertschaft umstellten sie das Haus. Sie wollten Aisches Cousin holen, weil er ein Widerstandskämpfer sein soll. Aisches Tante sperrte die Tür von innen zu, die Soldaten schossen durchs Fenster. Der Widerstand der palästinensischen Familie hielt nicht lang. Nach ein paar Minuten öffnete die Tante die Tür. In einer Reihe mussten sich alle Familienmitglieder am Straßenrand aufstellen. Die zehnjährige Aische trug nur ein Nachthemd. In Jericho wird es nachts kalt. Aische hatte Angst. Nach einer halben Stunde zogen die Israelis wieder ab. Ihren Cousin nahmen sie mit.

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Rafael ist ultraorthodoxer Jude, ein Chassid. Er wohnt im Jerusalemer Stadtteil Mea Shearim, wo nur strenggläubige Juden leben. Wenn während des Sabbat Autos durch Mea Shearim fahren, werden sie von den Einwohnern mit Steinen beworfen. Rafaels Eltern legen Tora und Talmud wörtlich aus. Für den Zwölfjährigen heisst das, dass er täglich dreimal betet, kein Fernsehen schauen oder mit Ungläubigen zusammenleben darf. Hat er muslimische Freunde? "Nein." Wieso nicht? "Ich mag die nicht - äh, ich meine, ich kenne die nicht." Willst du Moslems kennen lernen? "Nein, die wollen unser Land."

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In der Schule des Karmeliterordens in Haifa schwärmen alle. Lehrer wie Schüler loben ihr beispielhaftes Leben in Koexistenz. Juden, Moslems, Drusen und Christen - alle Religionen sind hier friedlich vereint. So jedenfalls die öffentliche Darstellung. Die Direktorin Schwester Rada findet blumige Worte: "Wir versuchen, das Fenster der Freundschaft zwischen den Kulturen zu öffnen." Auch der 15-jährige Christ Armen und die 17-jährige Muslimin Jasmin jubilieren: "Wir sitzen alle in einem Boot, wir sind Brüder und Schwestern." Das harmonische Bild bekommt schnell Risse. Auf die Frage, ob Jasmin jüdische Freundinnen hat, antwortet sie: "Natürlich." Und was macht sie mit diesen Freunden? "Äh, also, ich grüsse sie immer nett auf dem Schulhof."

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Wala sitzt auf einer Bank an der Altstadt-Mauer Jerusalems. Sie schaut die Menschen an, die durch das Damaskustor laufen. Die 21-Jährige trägt ein weißes Kopftuch und ein Kleid bis zu den Füssen. Wala findet keine Arbeit. Weil sie Muslimin ist und aus Ost-Jerusalem kommt, wird sie nirgendwo als Chemielaborantin angestellt, sagt sie. "Es ist kompliziert, die Juden lassen uns nicht das machen, was wir wollen." Dabei schaut sie ängstlich zu den Händlern, die ihre Sesamkringel anpreisen. Sie muss aufpassen, dass keiner ihrer Brüder sie mit einem Fremden sieht, sonst gibt's Ärger. "Wenn die uns nicht als Menschen akzeptieren, wird der Konflikt nie gelöst werden." Wala steht auf und verabschiedet sich. Es sei schon spät, sagt sie. Es ist halb eins am Mittag. Als sie die Stufen zum Damaskustor fast runter gegangen ist, dreht sie sich noch einmal um, kommt zurück und flüstert: "Es wird hier nie Frieden geben - niemals."

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Im Dorf Neve Shalom wohnen 52 Familien. Die eine Hälfte Juden, die andere Palästinenser. Die Kinder lernen neben Hebräisch auch Arabisch. Eines dieser Kinder ist der zwölfjährige Palästinenser Esam. Er ist früher jeden Freitag mit seinen jüdischen Nachbarn in die Synagoge gegangen. "In Kirchen und Moscheen muss man immer ruhig sein, aber in Synagogen singen die Menschen und springen rum. Das gefällt mir." Esam will aber nicht in seinem Heimatland bleiben. Er möchte nach Italien auswandern: "Da zählt nicht, wie du deinen Gott nennst, sondern, was für ein Mensch du bist."

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Ein Flüchtlingslager bei Jericho im Westjordanland. Auf dem Gehweg steht ein Sofa, darauf sitzt ein Junge. Er zeigt auf einen Haufen kaputtgelatschter Schuhe. "Wollt ihr Schuhe kaufen"? Nein, Danke. "Wie wär's mit einem Huhn?" Auch nicht. "Habt ihr trotzdem Geld?"

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Unterschiedlicher könnten zwei Kinder nicht sein. Elhanan, 12, Israeli, Jude, blond, Brille, Kippa mit Nike-Logo, Verteidiger. Und Moatasem, 14, Palästinenser, Moslem, rabenschwarze Haare, noch schwärzere Augen, Angreifer. Die beiden haben eine Leidenschaft, die sie verbindet: Fussball. Zusammen spielen sie in einem Projekt des "Peres Center for Peace." Israelis und Palästinenser kicken in gemischten Mannschaften. Zusammen. Nie gegeneinander. Ziel des Projekts ist es, dem Gegner ein Gesicht zu geben und dadurch eine Grundlage für Frieden zu schaffen.

Und es scheint zu funktionieren. Auf dem Platz bolzen die Kids wild durcheinander. Arabisch und hebräisch spielen keine Rolle. Die Sprache ist Fußball.

Doch auch hier ist der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern nicht vergessen. Elhanans grösster Wunsch ist es, Profi-Kicker zu werden, "so wie Ronaldinho." Moatasem, der im besetzten Bethlehem lebt, hat auch einen grössten Wunsch: "Salam." Frieden.

*

Ben Gurion Flughafen, Tel Aviv. Müde hänge ich in meinem Flugzeugsessel. Es ist acht Uhr morgens. Neben mir sitzt ein grauhaariger Mann mit Kippa. In perfektem Deutsch fragt er mich: "War das dein erstes Mal in Israel?". Nicken.

"Ein tolles Land. Oder?"

 

Koran, Kippa und Kicker – Der Ballsport im Heiligen Land
Israelische und palästinensische Nachwuchs-Fußballer zwischen Foul und Fairplay

von Thomas Gonsior

Kalt ist es im Kibbuz Ramat-Rahel. Blass-grauer Dunst begleitet die Dezember-Dämmerung. Nur schemenhaft erkennbar, und doch ganz nah erscheint Jerusalem mit seinen Synagogen, seinen Moscheen. Nicht mehr als fünf Kilometer ist die Heilige Stadt entfernt, um die sich alle Weltpolitik dreht. Doch hier im hochgelegenen Dorf dreht sich heute alles um den Fußball - und um ein ungewöhnliches Team: Junge Israelis und Palästinenser, die sich nicht bekämpfen, sondern zusammen um das runde Leder kämpfen - organisiert von der Organisation "Peres Center for Peace".

 

Kalt ist es im Kibbuz Ramat-Rahel, und Elhanan Goodman spannt die Waden. Langsam läuft der 12-Jährige an, spurtet schneller, sprintet sich warm. Entschlossen stechen seine Stollen in den fast gefrorenen Grasboden, bevor sie das Leder treten - harte Flanke in die Menge. Dann spielen sich Juden und Araber den Ball zu, und Elhanan läuft lässig aus.

"Die Idee mit den gemischten Teams hatten unsere Trainer", sagt er in gutem Englisch. "Die haben Kontakt zum Peres Center." Und das unterstützt den kleinen Fußballclub im Jerusalemer Vorort Yeruham, hilft mit Geld und PR, sorgt dafür, dass es regelmäßig zum Zusammen-Spiel mit Palästinensern kommt. Kommt es dabei auch zu Sprachproblemen? "Nun, sie versuchen Hebräisch, wir Arabisch. Ist aber schwierig", schmunzelt der junge Israeli, der seine Kippa, die Kopfbedeckung gläubiger Juden, auch auf dem Bolzplatz aufbehält.

Schwierige Einreise

 

Moatasem Mohamad Eissa kommt hinzu. "Wir verständigen uns durch Handzeichen. Sonst geht's nicht", sagt der 14-Jährige auf Arabisch - und sein Trainer Anwar Zaidan übersetzt. Ihr Club ist aus Al Khadr bei Betlehem, also aus den palästinensischen Autonomiegebieten. "Schwierig ist vor allem die Einreise", klagt der Trainer. "Es dauert über zwei Wochen, bis man die Erlaubnis hat, nach Israel zu kommen und an solchen Turnieren teilzunehmen."

Wenn die jungen Spieler aber auf dem Platz stehen, geht alles von selbst. "Wir spielen immer für das Team - mit ganzem Einsatz", sagt Moatasem. "Und dabei machen wir keinen Unterschied, ob Israeli oder Palästinenser".


"Fußball ist eine internationale Sprache! Sie verbindet, überwindet Grenzen!" schwärmt Gal Pelek in seinem Büro des Peres Center in Tel Aviv. Seit 1996, seit Gründung der Friedensorganisation, gibt es die von ihm geleitete Sportabteilung. In deren Hand sind neben den "Mixed Matches" unter anderem auch "Twinned Schools" - Fußballschulen, in denen Israelis und israelische Araber gemeinsam die Kunst des Kickens lernen.

Zum Frieden beitragen

 

"Sinn des Ganzen ist nicht, einen neuen Beckenbauer zu züchten", so Pelek. "Vielmehr wollen wir zum Frieden beitragen." Frieden durch Fußball? "Genau das. Was könnte sich dazu besser eignen, als wenn sich Feinde ihre Gesichter zeigen - und füreinander fighten?!" Das "Gesicht des Feindes" bekommen die Jungs vom Fußballclub "Hilal" in Jericho nur selten zu sehen. Es zeigt sich nicht oft in der Stadt im Westjordanland - und wenn, dann ist es das Gesicht eines israelischen Soldaten oder Grenzers.

 

Würde er gern mal gegen Israelis spielen? Das frage ich Muhamad, linker Angreifer. "Vielleicht", druckst der 15-Jährige herum. "Aber eigentlich nicht, die Situation ist zu schwierig." Andere Spieler laufen vorbei, rufen etwas, was Shadi, der arabische Tour-Begleiter, nur zögernd übersetzt: "imschi - ausreisen". Es bleibt offen, ob es als Wunsch oder Aufforderung gemeint ist.

Raus aus der Westbank

 

Als Fußball-Profi umherfahren, raus aus der Westbank - das bleibt vorerst ein Traum der Hilal-Sportler. "Wäre schon toll, bei Real Madrid zu spielen
- um die Spanische Meisterschaft!" lächelt Muhamad, 15, Palästinenser in Jericho, der geographisch tiefstgelegenen Stadt der Welt.

 

Kibbuz Ramat-Rahel. Oberhalb von Jerusalem. Das Turnier beginnt. Elhanan und Moatasem haben nun die gleichen Trikots an, spielen in einem Team. Beide als Verteidiger. 12. Minute: Tor für Rot-Weiß, 1:0 für die jüdisch-arabischen Gegner. Nur drei Minuten später: Ausgleich für Blau-Orange. Noch eine Weile Konzentration, noch einmal alles geben in einem weitgehend fairen Spiel, dann geht's vom Platz. Neue Teams, neues Glück.

"Take care! - Pass auf Dich auf!", ruft mir Elhanan zum Abschied zu, und es klingt, als ob er es auch zu sich selbst sagt. Es ist kalt im Kibbuz Ramat-Rahel. Doch wenn man sich warm gespielt hat, lässt es sich gut aushalten.

 

Fünf Israelis „Zu Gast bei Freunden“

Im Mai 2006 besuchten fünf israelische Journalisten auf Einladung des PNJ Berlin. Ziel der Veranstaltung war, dass die Kolleginnen und Kollegen einen Eindruck über die Jugendhilfe in der Hauptstadt bekommen. Sie sollten Partizipaationsmodelle kennen lernen, mit Politikern über deutsche, europäi-sche und deutsch-israelische Jugendpolitik sprechen und sich einen Eindruck von der Jugendkulturszene Berlins machen. Und nicht zuletzt sollten sich die Journalisten ein Bild von den Integrationsbemühungen in Deutschland machen – wie sich sehr schnell heraus stellte, wurde dieses Thema zum ungewollten Schwerpunkt des Aufenthalts. Denn während sich das Land auf die Besuch von Millionen Fans zur Fußball-WM vorbereitete, wurden in kurzen Abständen mehrere ausländerfeindliche Übergriffe publik, und der Verein "Gesicht zeigen!", bei dem wir einen Interviewtermin vereinbart hatten, warnte vor „no-go-areas“ in Brandenburg und Sachsen. Eine aufgeheizte Stimmung beherrschte das Land wenige Tage bevor die Welt zu Gast zu Freunden kam, und unsere israelischen Gäste nahmen ihre ganz eigenen Eindrücke mit nach Hause. Auf der Website des israelischen Militärsender Galej Zahal, der zu den beliebtesten Jugendwellen Israels gehört, veröffentlichten drei der Gäste ihren Bericht, den wir hier nachdrucken.

Übersetzung des Berichts auf der Website 
von Galej Zahal

Wir, junge israelische Journalisten, sind nach Deutschland mit einem ganz bestimmten Ziel gefahren - um uns Deutschland von unserem eigenen Standpunkt aus anzuschauen. Israelische Juden, die mit der Geschichte des Holocaust aufgewachsen sind, aber offen für Neues und mit der Hoffnung auf Weltfrieden. Wir sind nach Deutschland gefahren, in ein Land voller Brandmale und Geschichte. Die Nazis oder das neue Deutschland, Deutsch-land, das kosmopolitisch ist oder das isoliert da steht, Deutschland, das antisemitisch oder pro Israelisch ist, ein Land, das eigentlich alles aufweist.

 

Die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel werden schon seit Jahren diskutiert. Wir aber haben nicht erkannt, dass Deutschland inzwischen weltoffen geworden ist. Mit der Eröffnung der Fußballweltmeisterschaft sieht sich Deutschland wieder, 60 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg, mit Vorurteilen konfrontiert.

 

Jetzt, wo die ganze Welt das Gastgeberland beobachtet, ist es an der Zeit, sich das neue Deutschland anzuschauen, Deutschland des dritten Milleniums. Es ist an der Zeit, der neuen Generation, die das Land führt, die Möglichkeit zu geben, zu beweisen, dass eine Veränderung stattgefunden hat.

 

Aber in einer Demokratie gibt es immer Minderheiten, und es sieht so aus, dass die Neonazi-Minderheiten doch so stark sind, um nicht nur deren Stimme zu erheben, sondern um Deutschland zu erschüttern. Deutschland des Jahres 2006, wie auch die ganze moderne Welt, muss sich mit vielen Journalisten auseinandersetzen, die nur darauf warten, jeden kleinen Vorfall zu einer Titelblattgeschichte zu machen, so z.B. im Artikel „Deutschland 2006 – das vierte Reich“.

 

Den Vorwand für diese Geschichte hat der ehemalige Bundespressesprecher, Herr Uwe Karsten geliefert, als er empfohlen hat, eine Liste von Gegenden zu veröffentlichen, die für Fremde gefährlich sein könnten, besonders für Touristen mit dunkeler Hautfarbe. Aber sehr schnell wurde die Geschichte so aufgebauscht, dass sie große politische, rechtliche und vor allen zivile Konsequenzen nach sich zog.

Am Anfang wurden verschiedene Orte als „nicht empfohlen“ definiert, Städte, Dörfer, die sich größtenteils in Ostdeutschland befinden. In diesen Gegenden kann man viele Sympathisanten der NPD finden, einer rechtsgerichteten radikalen Partei, die während der WM eine Demo zur Solidarität mit dem Iran organisiert hat. Und das nachdem iranischer Präsident Mahmud Ahmadi-nedjad verkündet hat, dass es gar kein Holocaust gegeben hat.

Der Versuch, die „verbotenen Orte“ zu definieren, hat eine Welle der verschiedensten Reaktionen hervorgerufen. Deutschland steckt schon wieder in einer Zwickmühle – eine neue Generation der Deutschen, die gerade die ganze Welt zu sich eingeladen hat, oder das gleiche alte nationalistische Deutschland, das die Fremden hasst? Es ist wichtig zu bemerken, dass die rechten Extremisten in Wirklichkeit nicht so stark in Erscheinung treten, nicht im Alltag und nicht in der Politik. Die NPD hat ca. 5.300 Parteimitglieder, was in einem Land von mehr als 80 Millionen Einwohnern ein sehr kleines Prozent ist.

 

Trotzdem hat sich die deutsche Regierung doch zum Schluss dazu entschlossen, eine Liste mit Orten und Straßen zu veröffentlichen, die gefährlich sind. Genau wie vor 70 Jahren, diesmal jedoch aus einem gegenteiligen Grund – dem Wunsch zu beschützen. Das Ergebnis nimmt nicht so viel Rücksicht auf den Grund der Veröffentlichung, die Erfahrungen aus der nicht ruhmreichen Deutschen Geschichte haben für starken Wirbel als Re-aktion darauf gesorgt. Der Afrika-Rat in Deutschland hat kurz vor der WM eine Bekanntmachung veröffentlicht, in der er seine Sorgen um die Gäste aus Togo, Elfenbeinküste, Angola, Trinidad und Tobago, Ghana und anderen afrikanischen Ländern äußert. Diese Bekanntmachung enthielt eine Art „Wegweiser für einen Fremden bei Angriffen von Rechtsradikalen“. Angefangen mit Nottelefonen, bis zu einer ganz genauen Beschreibung, wie man um Hilfe ruft, sich in öffentlichen Verkehrsmitteln benimmt, wie diese Gruppierungen aussehen und das Verhalten in dunklen Gegenden und in der Fanmeile.

Die Deutsche Regierung hat sehr viel in den Kampf gegen die rechtsradikale Gesinnung investiert. Während der ganzen Schuljahre wird immer wieder der Holocaust an den Juden Deutschlands und Europas im Unterricht durchgenommen. Außer dem Standard-Schulprogramm, gibt es noch andere Unterrichtsformen. In Deutschland gibt es ein Programm „Schulen gegen den Rassenhass“. z.B. die Max Planck Oberschule in Kreuzberg in Berlin (das kleine Istanbul).

Die Schüler an dieser Schule, die selbst Einwanderer oder Kinder von Ein-wanderern aus Ländern wie Türkei, Kasachstan oder Ghana sind, und deutsche Schüler reden offen über die Gewalt und Fremdenhass auf der Strasse. „Die Gewalt gegen Fremde gibt es überall, ich erinnere mich, dass man mich im Kindergarten immer komisch angeschaut hat, man hat mich gehänselt und Negerin genannt“: hat eines der Mädchen aus der Schule erzählt. Ihre Freundin fügte noch hinzu: „ Einmal in der U-Bahn hat mich ein Man mit einem Hund angeschrieen, ich soll zurück in die Türkei, dass ich hier nichts verloren habe“.

 

Auch die deutschen Jugendlichen haben die Nase voll von solchen Vorfällen, besonders wenn es sich um ihre Jugendfreunde handelt. In einem Anti-Fremdenhass-Projekt, den die Schule organisiert hat, werden Flyer veröffent-licht, Filme gezeigt, Kunstabende und mehr veranstaltet. Es wird im Allge-meinen mehr Aufmerksamkeit dem aufsteigenden Fremdenhass gewidmet.

Die einzige Organisation gegen Fremdenhass, die von öffentlichen Geldern finanziert wird, heißt „Gesicht Zeigen“. Diese Organisation wird von drei Mit-arbeitern geleitet, alle anderen Mitarbeiter sind freiwillige Helfer. Sie versuchen mit nicht konventionellen Mitteln gegen den Fremdenhass anzugehen, z.B. durch Humor: „Wir versuchen, die Neonazis aus einer anderen Perspektive zu zeigen“ erzählt eine der Mitarbeiterinnen der Organisation. „Humor ist einer der Wege, der dazu führen kann, dass die Menschen sich mit dieser Problematik beschäftigen“. Eine Werbeanzeige von „Gesicht Zeigen“ wird in Kinos und anderen öffentlichen Plätzen gezeigt. Hoffen wir, dass dieser Weg seine Wirkung zeigt.

 

Eine der wichtigsten Themen, die diese Art von Organisationen beschäftigt, ist die Gewalt und Fremdenhass gegen die türkischen Führungskräfte in Deutschland und insbesondere in Berlin. Heute ist Berlin, gemessen an der Anzahlt der türkischen Bevölkerung, die drittgrößte Stadt in der Welt (nach Istanbul und Ankara). Daher wird der Bezirk Kreuzberg auch „Klein Istanbul“ genannt.

In den 50er und 60er Jahren und in den Jahren des kalten Krieges hat Deutschland sehr am Mangel an Arbeitskräften gelitten. Dies hat Tausenden „Gastarbeitern“ die Möglichkeit gegeben, hier eine Arbeit zu finden und die Lebensqualität zu erhöhen. Viele türkische Immigranten, die sich um ihre Zukunft als Fremde Sorgen machten, haben sich nicht mit der Deutschen Sprache und der deutschen Kultur identifizieren können. Daher gibt es eine sehr große Kluft in der Bildung wie auch in der Kultur zwischen der deutschen und der türkischen Bevölkerung.

„Die Zukunft gehört der Jugend“ behauptet die Organisation „Gesicht Zeigen“, es hat keinen Sinn, die alte Generation ändern zu wollen, sondern man muss die Weltanschauung der jungen Türken verändern, die aus traditionel-len Familien kommen. In ganz Berlin wurden viele Zentren zur Integration der Jugendlichen errichtet, in denen sie Unterstützung finden durch verschiedene Kurse, wie z.B. Sport, Theater und mehr.

 

Die Fußballweltmeisterschaft hat Deutschland ohne große Zwischenfälle überstanden. Die ausländischen Journalisten hatten die ihnen von Zuhause bekannte Gewalt miterlebt, die die britischen Hooligans geliefert haben. Diese haben fast das alte Geschehen in Stuttgart wieder aufleben lassen (das erste Mal war es während des Zweiten Weltkrieges).

Mann kann sagen, dass im Auge des Betrachters Deutschland sich verändert hat. Nicht noch mehr Fremdenhass, Klassifizierung und Wegkehren von Problemen. Die WM, vor allem die Vorbereitung auf die WM, hat es uns ermöglicht, das Deutschland des Jahres 2006 zu sehen – ein Land, das Rücksicht nimmt, großzügig, selbstbewusst und natürlich sportlich ist.

Bericht: Asaf Sitton, Barak Itzkovitz und Or Chelkovnik

Übersetzung: Julia Kritschmar